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Mein grosser Bruder

Mein grosser Bruder

Titel: Mein grosser Bruder
Autoren: Berte Bratt
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leise: „Die Wildente!“
    Ich ging auf Zehenspitzen an das gedachte Wandregal, suchte mit Hedwigs halb zusammengekniffenen Augen, suchte mit der Hand und fand die – wenn auch nur gedachte – Pistole. Ich blieb stehen, das Gesicht zum Publikum – also zum Intendanten – gewandt. Jetzt öffneten sich Hedwigs Augen zum erstenmal ganz, jetzt wollte ich, daß man ihren Entschluß aus ihrem Gesicht lesen sollte. Dann drehte ich mich um und verschwand im Hintergrund.
    Stille. Eine lange Stille. Die Stille tat mir gut. Ich brauchte Zeit, um wieder aus Hedwigs Haut und in meine eigene zu kriechen.
    Birger legte das Buch weg, stand auf, kam zu mir, nahm mich in die Arme und gab mir einen Kuß. Er sagte kein Wort. Dann kam der Intendant. Er legte beide Hände auf meine Schultern und sah mir ins Gesicht. Dann sprach er.
    „Kleine Vivi. Ich weiß nicht, ob Sie andere Rollen so spielen könnten. Ich habe so das Gefühl, daß Sie alles, aber auch alles, was Sie haben, in Hedwig gelegt haben. Ja, dann wäre nur eins zu fragen: Wollen Sie beim Ibsen-Jubiläum die Hedwig spielen? Die Proben fangen übernächste Woche an!“
    Was mit mir von diesem Augenblick an passierte, bis ich eine halbe Stunde später in unserer Wohnung stand, ahne ich nicht. Ich muß ja nach Hause gegangen sein, muß den Schlüssel aus der Tasche geholt haben, ich hatte wohl meinen Mantel aufgehängt – ich sah nur, daß ich mitten im Wohnzimmer stand, von einem Glück erfüllt, das ich überhaupt nicht beschreiben kann.
    Alles drehte sich in meinem Kopf. Aber endlich drängte sich ein einziger vernünftiger Gedanke hervor aus dem Wirrwarr: Ich muß Torsten anrufen!
    Außer Atem, mit zitternder Stimme sagte ich nur: „Torsten! Ich werde die Hedwig spielen! Beim Ibsen-Jubiläum!“
    Mehr schaffte ich nicht. Denn jetzt fing ich an zu heulen!
    Es war Abend geworden.
    Als wir zu Mittag gegessen hatten, war ich so müde, daß ich kaum stehen konnte. Ohne große Kommentare nahm Torsten mich in seine Arme und trug mich ins Bett.
    Als ich am späten Nachmittag aufwachte, war ich ein neuer Mensch. Der sinnlose Glücksrausch war vorüber. Das, was ich jetzt empfand, war ein großes, reiches – und beinahe demütiges Glück.
    „Was wird wohl Elsa sagen?“ fragte Torsten lächelnd.
    „Sie wird sich freuen! Und ich glaube, Johannes auch. Du, ist es nicht… nicht… sagen wir ungewöhnlich, daß man bei einem Theaterchef vorspricht und statt eines sachlichen Urteils ein Rollenangebot bekommt?“
    „Doch“, lächelte Torsten, „das ist äußerst ungewöhnlich, wenn es überhaupt jemals vorgekommen ist. Jetzt platzt du wohl vor Stolz?“
    „Nein, merkwürdigerweise nicht. Ich fühle mich klein und demütig – ich meine, demütig dankbar. Daß ich das alles nun geben darf, was sich in mir gespeichert hat – ja, weißt du, die Probe heute war mir wie eine Erlösung! Ich gab alles, wirklich alles – und dann war ich meine Besessenheit los, dann war ich nur müde und unbeschreiblich glücklich!“
    Wir plauderten leise weiter. Torsten war der beste Kamerad auf der Welt, so wie er an meiner Freude teilnahm!
    „Weißt du, Torsten“, sagte ich, „der glücklichste Tag meines Lebens war der Tag, an dem ich dir bei Advokat Mortensen plötzlich gegenüberstand und alle Mißverständnisse wegräumen konnte.“
    „Wem sagst du das?“ Torsten drückte mich enger an sich. „Das war doch auch für mich der glücklichste Tag im Leben.“
    „Und heute“, fuhr ich fort, „heute ist der zweitglücklichste!“ Torsten stand auf und ging in die Küche. Gleich darauf kam er wieder. Er trug ein Tablett mit einer Flasche Champagner und zwei Gläsern.
    Mit einem verschmitzten Lächeln machte er sich daran, die Flasche aufzumachen. Er goß den perlenden Wein in die Gläser, ich streckte die Hand nach meinem Glas aus – und in dem Augenblick klingelte das Telefon.
    „Oller Bimmelkasten“, murmelte Torsten und ging in den Flur, wo der Apparat stand. Ich blieb sitzen, ich wartete da, vor dem perlenden Champagner.
    Ich hörte nur schwach Torstens Stimme durch die geschlossene Tür, es war mir, als ob er ein paar Fragen stellte. Dann wurde aufgelegt, und er kam zurück. Sein Gesichtsausdruck war völlig verändert.
    „Vivilein – es war die Nachbarin von Elsas Tante. Da ist was passiert. Tante Charlotte ist auf der Treppe gestürzt, der Arzt ist gerade dagewesen, und jetzt warten sie auf den Krankenwagen. Es ist ein Beinbruch. Sie bat uns, sofort die Kleine zu
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