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Mein grosser Bruder

Mein grosser Bruder

Titel: Mein grosser Bruder
Autoren: Berte Bratt
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Leben, ein tragisches Stück Wirklichkeit. Sie spielte nicht die Hedwig, sie war Hedwig. Sie weinte echte Tränen, konnte ein paarmal kaum sprechen vor Weinen. Ich hätte sie so, wie sie war, ohne Regie, ohne Instruktion auf die Bühne lassen können, und ich hätte es sehr gern getan. Aber wie lange sie das durchgehalten hätte, ist eine andere Frage. Wenn die Vorstellung lange gelaufen wäre, hätte sie sich selbst verbraucht, sie wäre zusammengeklappt. Oder es wäre Routine geworden, und ihre Darstellung hätte darunter gelitten.“
    Ich dachte sehr viel über diese Worte nach, und zu guter Letzt verstand ich sie. Ich dachte daran, wie vollkommen erschöpft ich nach der Probe gewesen war. Ich dachte an das, was ich Torsten gesagt hatte: „Es war beinahe wie eine Erlösung.“
    Vielleicht war es am besten so. Ich war besessen gewesen, ich mußte einmal die Hedwig sein, mußte jemandem dieses kleine Menschenkind zeigen. Ich tat es auf der Probe, ich hatte es zwei Menschen gezeigt, die es verstanden. Wer konnte mir garantieren, daß jeder Zuschauer meine Hedwig verstanden hätte?
    Die Besessenheit war vorüber.
    Ich war nicht zur Schauspielerin geboren. Elsa hatte einmal gesagt, es gäbe Menschen, die eine einzige Rolle glänzend spielen können und in anderen Rollen hoffnungslose Versager sind. Es hat schon einen Grund, wenn die strengen Prüfer so einen Prüfling in zwei oder drei ganz verschiedenen Rollen sehen wollen!
    Ja, so ein Mensch war ich. Ich hatte als Hedwig auf der Probe die „Erlösung“ gehabt. Meine Bühnenkarriere war abgeschlossen, bevor sie angefangen hatte.
    Es war gut so.
    Elsa und Johannes kamen zurück. Strahlend glücklich, voller Berichte und Erzählungen, mit den Koffern voller Bilder und Reiseandenken und Mitbringsel.
    Elsa begann mit den Proben als Hilde. Eines Tages kam sie direkt von der Probe zu mir. „Vivi! Ich habe ein Hühnchen mit dir zu rupfen!“
    Es war Birger, der sich verplappert hatte. Jetzt kannte Elsa die ganze Geschichte.
    Sie fing an, mir eine Rede zu halten, aber ich unterbrach sie: „Hör, Elsa. Wäre es wertvoller, daß ich die einzige Rolle meines Lebens gespielt hätte, oder daß Johannes diese unendlich große Freude erleben durfte?“
    „Ja, wenn du es so formulierst – aber es war phantastisch von dir, Vivi.“
    „Wie oft, glaubst du, war Johannes phantastisch zu mir?“
    „Ich weiß, Vivi. Aber trotzdem… Birger erzählte mir von deiner Leistung – und daß du auf der Stelle das Angebot bekamst. Menschenskind, was wird es dich gekostet haben, es abzulehnen!“
    „Aber es ist doch gut so, Elsa. Das verstehe ich jetzt.“
    „Aber Vivi! Weißt du, es ist möglich, daß ,Die Wildente’ später in diesem Jahr gespielt wird. Birger deutete so was an. Vielleicht im Oktober. Dann wirst du bestimmt…“
    „… nicht die Hedwig spielen“, ergänzte ich.
    „Warum in aller Welt nicht?“
    „Weil meine Figur zu dem Zeitpunkt durchaus nicht zu Hedwigs Rolle passen wird. Es ist nämlich so, siehst du – ich habe ja deine Tochter so liebgewonnen, daß ich ihr alles Gute wünsche. Und das Beste, was ich für sie tun kann, wäre doch, ihr einen kleinen Vetter zu verschaffen. Oder vielleicht wird es eine Cousine.“
    „O Vivi! Wie freue ich mich! Für dich und Torsten und für Felice! Und wie wird Johannes sich freuen!“
    Elsa behielt recht. Denn am gleichen Abend kam Johannes vorbei. Elsa hatte wohl nicht den Mund halten können. Johannes wußte über alles Bescheid – über das abgelehnte Angebot, über meine Hedwig-Besessenheit und über das kommende freudige Ereignis.
    Johannes war nie ein Mann von vielen Worten.
    Er nahm mich fest in die Arme, er küßte meine Stirn und sagte leise: „Mein liebes, liebes Schwesterchen!“
    Ich guckte rauf in sein Gesicht, in seine so unsagbar gütigen Augen. „Ich habe dich so lieb, Johannes. Lieber, großer Bruder!“
     
     
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