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Mein fremder Bruder

Mein fremder Bruder

Titel: Mein fremder Bruder
Autoren: Tahmima Anam
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gekommen, und die Idee rast durch unsere Adern, daß es etwas Größeres geben könnte als unser eigenes Leben. Während ich träume, wacht Zaid mitten in der Nacht auf, er weiß nicht mehr, wo er ist, er weiß nur, daß er zu seinem Vater zurückgebracht wird, der ihn auf die Koranschule zurückschicken wird. Der Sand am Flußufer ist weich, seine Zehen versinken im Schlick. Alif, ba, ta, sa , sagt er sich vor. Ich kann das Alphabet. Ich träume von Eis mit Mangos. Ich träume von uns dreien, wir drei, was schon an sich etwas ganz Besonderes ist, weil Ammu immer gesagt bekam, sie könne Sohail und mich nie allein aufziehen. Aber da sind wir, mit unserem Appetit und unserer politischen Gesinnung und den vielen, vielen Möglichkeiten, die rot in unseren Wangen glühen, und wo ist er, mein Zaid, er sitzt am Jamuna und taucht die Zehen in das schwere Wasser. Warm. Er träumt auch, seine Hoffnungen tasten nach einem anderen Leben, am anderen Ufer des Jamuna, Lachen und Fahrräder und den ganzen Tag Fernsehen. Schule. Liebe. Schokoriegel. Der Igloo-Mann. Der Igloo-Mann kommt auf seinem Fahrrad mit der Eisbox, und unsere Zungen schmecken die Vereinigung von Mango, warm vom Baum, die ganze Nachmittagshitze steckt darin, vermischt mit dem zuckersüßen, eiskalten Geschmack des Winters. Mein Bruder ist schön, so schön, daß die Mädchen ihm während des Unterrichts kleine Zettel zustecken, die Tinte klebt an ihren vor Eifer feuchten Händen.Er ist ernsthaft und stolz, und er ißt doppelt so viele Mangos wie Ammu und ich, aber das stört uns nicht, er war immer schon etwas Besonderes bei uns im Haus. Der Mann. Zaid wackelt an seinem losen Zahn, faßt sich in den Mund und zieht. Der Milchzahn ist noch nicht soweit, doch er reißt ihn aus, Blut im Mund. Er spuckt.
    Sie sieht wie seine Mutter aus, aber sie ist nicht seine Mutter. Sie bringt ihn nach Hause. Sie verspricht, daß er nicht wieder zurückgeschickt wird, daß sie mit seinem Vater reden wird. Aber was soll sie ihm sagen? Ich habe es ihm schon gesagt. Anfangs beugt er sich nur über das Wasser, schöpft mit der Hand, spült sich den Mund. Das Wasser schmeckt so bitter wie sein Blut. Die andere Seite, die andere Seite. Wo Zähne nicht verfaulen und niemand ist, der ihm die Handgelenke nach unten drückt. Eiscreme und Mangos. Melasse. Der Dattelbaum wird angezapft, sein Saft getrunken. Es ist nicht weit, das andere Ufer. So lange kann ich die Luft anhalten. Er läßt den Körper nach vorn fallen, und das Wasser schließt sich über ihm. So lange kann ich die Luft anhalten.

Epilog

1992
    Der Tag ist perfekt. Noch hängt eine Andeutung von Winter in den Bäumen, das Licht ist blaß und gleißend. Die Bühne ist mit grün-rotem Stoff verkleidet, und in der Mitte befindet sich ein quadratisches, umzäuntes Areal mit erhöhter Plattform. Der Zeugenstand.
    Bald wird sich das Suhrawardi Field mit Menschen füllen. Ein Zeuge nach dem anderen wird auf der Bühne antreten. Einer nach dem anderen wird seine Geschichte erzählen. Ali Ahmed, Shahjahan Sultan, Jahanara Imam. Sie werden vom Krieg sprechen, über die Kinder und Kameraden, die sie verloren haben. Darüber, was sie gesehen und was sie getan haben. Sie werden darüber sprechen, was sie die ganzen Jahre lang nur vor sich selbst ausgesprochen haben.
    Mayas Tochter, die fünfjährige Zubaida, wird ihre Hand halten, während die Reden den ganzen Nachmittag lang weitergehen. Ihre Handflächen werden rutschig, aber sie halten einander fest, die Finger verschränkt. »Ammu«, flüstert sie, »wird Ghulam Azam jetzt aufgehängt?«
    »So schnell geht das nicht, Beta. Erst muß er mal verurteilt werden.«
    Wenn Jahanara Imam nach vorn tritt, um ihre Geschichte zu erzählen, wird Maya in der Menschenmenge nach Ammu suchen. Sie wird sie nicht sehen – es sind zu viele Menschen da –, aber sie weiß, daß ihre Mutter da ist. Sie hat es versprochen. Die Leute werden zuhören, die Stille durch Nicken und Klatschen erträglicher machen; immer wieder wollen sie hören, wie Jahanara ihren halbwüchsigen Sohn aufs Schlachtfeld geschickt hat. Wollen von ihren Pflichten als Mutter hören.
    Und dann ist es soweit.
    Eine Frau erhebt sich. Sie geht zur Bühne und blickt geradeaus in Richtung Horizont. Alles ist still, nur die Bäume rauschen. Ein Geschenk der Zuschauer: Als würden sie extra für sie den Atem anhalten.
    Die Jahre haben sie majestätisch werden lassen. Sie ist schwerer, aber immer noch schön. Ein junger Mann führt sie am
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