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Mein fremder Bruder

Mein fremder Bruder

Titel: Mein fremder Bruder
Autoren: Tahmima Anam
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warnen.«
    »Was hast du denn geglaubt, Maya – daß ich ihn nicht da rausholen würde?«
    Die Stimme versagte ihr. »Aber ich dachte, ich dachte, du hättest gesagt –«
    »Ich habe gesagt, daß ich für seine Sicherheit sorgen würde.«
    Er wäre selbst hingefahren. Er wäre hingefahren, er hätte seinen Sohn gerettet, er hätte ihn zurück nach Hause gebracht. In diesem Augenblick würden sie zusammen im Garten sitzen und Blüten vom Ixorenbusch auslutschen. »Dann bin ich schuld – ich trage die Verantwortung für seinen Tod.«
    »Gott allein bestimmt die Stunde, in der ein Mensch stirbt«, sagte Sohail.
    Sie glaubte ihm nicht. Sie war nicht bereit, ihre Verantwortung abzuwälzen, und wollte ihm das gerade sagen. Sie wollte erwidern, daß Sohail selbst die Verantwortung dafür auf sich nehmen mußte – sie beide mußten das –, aber etwas regte sich in ihr, etwas sagte ihr, daß sie das annehmen sollte, was er ihr anbot: eine Art, die Tragödie zu erklären und ihr zu vergeben. Dabei wollte sie nicht, daß er ihr vergab – nein, sie wollte keine Vergebung. Aber sie war trotzdem erleichtert über das Angebot, über den Keim einer Möglichkeit, daß es etwas gab, das größer war als sie beide, größer als sein Herz und ihres. Und bitte um Vergebung für deine Sünde , hatte sie aus dem Buch in Erinnerung, für die gläubigen Männer und die gläubigen Frauen.
    Sie wagte es, ihn anzublicken. Sie wollte ihn fragen, ob er sie je wieder lieben könnte, aber sie tat es nicht. Statt dessen sagte sie: »Ich glaube dir.«
    Er nickte. Sie fragte sich, warum er hier war. Wahrscheinlich, um mitzuerleben, wie sie ins Gefängnis geworfen wurde. Um seine Anklage zusammen mit den anderen vorzubringen. Ich klage hiermit meine Schwester Maya der folgenden Verbrechen an: Daß sie mir nicht geglaubt hat, als ich mich dem Buch zugewandt habe, daß sie sich über meinen Glauben lustig gemacht hat, daß sie versucht hat, mich in das alte Leben zurückzulocken, daß sie mich den Dämonen überlassen hat, die mich nach dem Krieg verfolgten, als wir unsere Träume verloren hatten. Daß sie mich nicht geliebt hat. Daß sie meinen Sohn geliebt hat. Daß sie ihn ermordet hat.
    Nach einem langen Schweigen sagte er: »Ich gehe weg. Nach den vierzig Tagen Trauerzeit gehe ich nach Saudi-Arabien.«
    »Wie lange?«
    »Ein paar Monate, vielleicht ein Jahr.«
    Da war er also gekommen, um sich von ihr zu verabschieden. »Und Ammu?«
    »Du wirst dich um sie kümmern müssen.«
    »Was ist mit den Frauen von oben?«
    »Khadija geht mit mir.«
    Sie nickte. Gott war unendlich in seiner Gnade.
    Sie wollte ihm sagen, daß sie über den Mann Bescheid wußte, den er getötet hatte. Sie wußte, daß er deswegen an diesen Punkt gekommen war, wußte, daß er überall eine schwere Halskette aus Schuld mit sich herumschleppte, und verstand jetzt endlich ein wenig. Aber dafür war es jetzt zu spät. Es konnte kein Verstehen zwischen ihnen geben. Er würde eine Halluzination für sie bleiben, das Gespenst eines Mannes, den sie einmal geliebt hatte. Und sie würde eine Fremde für ihn bleiben. Daß er bereit war, das zu akzeptieren, ohne sie auch noch bestrafen zu wollen, reichte. »Es tut mir so leid, Bhaiya. Es tut mir so schrecklich leid.« Sie beugte den Kopf und wartete auf das Gewicht seiner segnenden Hand.
    »Es steht mir nicht zu, dir zu vergeben«, sagte er. »Es steht mir nicht zu.«

    Zu diesem Tag wird sie zurückkehren. An jeder Kehre und Wendung ihres Lebens wird sie ihn wieder heraufbeschwören. Was wäre gewesen, wenn. Wenn bloß. Sohail hatte einen Mann getötet. Er hatte ihm das Leben genommen, hatte ihn abgeschlachtet wie ein Tier. Jeden Tag hört er die Geräusche dieses Augenblicks, spürt das Gewicht des Messers in seiner Hand, die Wunde im Fleisch, die Nässe des Bluts an seinen Fingern. Und ihr wird es nicht anders ergehen. Sie wird sich sehen, wie sie mit der Fähre übersetzt, an die Madrasatür hämmert, den Jungen seinem Gefängnis entreißt und in die Arme schließt unddie Augen zumacht und sich sagt, daß sie nicht schlafen darf, aber der Schlaf kommt trotzdem, und jedesmal, wenn sie die Augen öffnet, wird es zu spät sein. Was wäre gewesen, wenn. Wenn bloß.

    *

    Ich träume, träume. Wir sind im Bungalow, Sohail und ich. Es ist vor dem Buch, vor dem Krieg. Ammu schält Mangos, und wir warten darauf, daß der Eismann auf dem Fahrrad kommt und klingelt und Igloo Igloo Igloo schreit. Wir sind gerade aus der Uni nach Hause
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