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Mein fremder Bruder

Mein fremder Bruder

Titel: Mein fremder Bruder
Autoren: Tahmima Anam
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Dunkelheit sah er einen Mann auf der Straße. Er war anders als alle anderen, gut genährt, trug eine dicke Wolljacke, einen um Hals und Kinn gewickelten Schal. Warum schritt er so selbstbewußt dahin? Sohail wollte ihn von nahem sehen. War er ein feindlicher Soldat, der sich unauffällig unter die Menschen zu mischen versuchte? War er der Soldat, der Piya als Sklavin gehalten hatte? Es spielte keine Rolle. In gewisser Weise hatten sie alle Piya dort im Lagerraum hinter der Kaserne gefangengehalten.
    Sohail ging auf den Mann zu, und der Mann sah Sohail an, und Sohail meinte, ihn etwas sagen zu hören: Es war schwer zu verstehen, weil der Mund des Mannes von dem Schal verdeckt war. Sohail kam näher, die Hand fester am Gewehr. Beta , sagte der Mann, Beta . Beta. So hatte Ammu Sohail immer genannt, ein zärtliches Wort, ein Wort aus ihrer Vergangenheit. Ein Urduwort. Und bevor Sohail wußte, wie ihm geschah, hatte er das Gewehr sinken lassen und umarmte den Mann, als sei er sein lang verstorbener Vater, und im nächsten Augenblick zog er das Messer heraus, das er in seinem Lungi stecken hatte, und als der Mann das Messer sah, fiel er auf die Knie, schlang die Arme um Sohails Beine und flehte Bismillahirrahmanirrahim. Der Mann bettelte um sein Leben. Er bettelte, aber Sohail hörte nichts als die Worte des Bittgebets, als er den Hals des Mannes packte und antwortete Es gibt keinen Gott außer Gott , und schon sprachen sie im Chor, töteten und starben, starben und töteten, seine Hand am Messer zitterte nicht, und im Gleißen des Messers sah er die Augen des kahlköpfigen Mädchens in der Kaserne, und all die Dinge, die er selbst gesehen hatte oder sich vorstellen konnte, stürmten auf ihn ein, Dinge, die seine Hand an der Kehle des Mannes notwendig machten,und dazu rezitierte er Gott ist groß, Gott ist groß, Gott ist groß.
    Das Blut floß aus dem Hals des Mannes. Sohail wickelte ihm den Schal vom Gesicht, und als er hineinblickte, wurde es ihm mit tödlicher Wucht klar. Beta. Dieser Mann war kein Soldat. Er war kein Soldat und auch kein Bihari oder sonst irgendein Feind. Er war einfach ein alter Mann mit grauen Bartstoppeln am Kinn. Er hatte das Gesicht eines Vaters, ein freundliches, durchschnittliches, besorgtes Gesicht. Ein Niemand. Niemand, der irgend etwas verbrochen hatte. Ein Mann, der wie alle anderen aus dem Krieg heimkehrte.
    Sohails Leben im Tausch für diesen Tod. Bezahlt mit Fleisch und Blut. Es mußte in ihm ticken wie eine Bombe. Deswegen hatte er seine eigene Mutter verlassen, weil sie ihm nicht genug beigebracht hatte. Wenn sie ihm das Buch früher zu lesen gegeben hätte, hätte er es vielleicht besser gewußt. Er hätte es womöglich nicht getan.

    Am nächsten Tag wird Maya von einem untersetzten Mann in einem engen Anzug besucht. Er stellt sich als ihr Anwalt vor. »Ich muß Ihnen leider sagen, daß die Situation ein bißchen komplizierter ist, als wir gedacht haben«, sagt er. »Die Mullahs haben sich gegen Sie verschworen.«
    Sie hat es doch gewußt. Es war der verdammte Huzur, der erst ganz kleinlaut getan hat und ihr jetzt das Messer in den Rücken rammt.
    »Das Problem ist, daß der Diktator sich bei den Mullahs lieb Kind machen will, weswegen er ein Exempel an Ihnen statuieren will. Und daß Sie ihn als Vollidioten dargestellt haben, hilft Ihrer Sache natürlich auch nicht gerade.«
    Der Diktator? Sie ist verwirrt. »Ich bin im Gefängnis, weil ich meinen Neffen Zaid entführt habe.«
    »Ich habe davon gehört, Madame, und es tut mir sehr leid. Aber das hier ist leider Gottes wesentlich ernster.«
    Was kann ernster sein?
    »Momentan wird überlegt, ob Sie wegen Verleumdung oder Hochverrat angeklagt werden sollen. Wie Sie sich vorstellen können, wäre Hochverrat wesentlich schlimmer. Zum Glück ist die Öffentlichkeit auf Ihrer Seite – für morgen ist eine Protestkundgebung am Shahid Minar angesetzt. Für Sie und Shafaat.«
    Shafaat? Langsam versteht sie. Sie ist im Gefängnis, weil sie den Artikel geschrieben hat, weil sie den Diktator einen Kriegsverbrecher genannt hat. Der Anwalt erzählt ihr die ganze Geschichte. Shafaat und Aditi sind ebenfalls festgenommen worden. Ob sie wütend auf sie sind, will sie wissen. Der Anwalt lacht; festgenommen zu werden ist genau das, was Shafaat sich immer gewünscht hat. Er ist ein Held, sie hat ihm einen Gefallen getan.
    Sie vergräbt das Gesicht in den Händen. Sie ist gar nicht Zaids wegen festgenommen worden. Niemand interessiert sich für den
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