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Mein fremder Bruder

Mein fremder Bruder

Titel: Mein fremder Bruder
Autoren: Tahmima Anam
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kleinen Jungen. Sie schmeckt es wieder, das liladunkle Wasser.

    *

    Im Gerichtssaal wurden ihr die Handfesseln abgenommen, sie sollte sich neben den Anwalt setzen. Joy saß in einer verknitterten Kurta in der ersten Reihe. In den letzten Wochen hatte Maya das Gefühl, daß sie sich in etwas von geringer Substanz verwandelt hat. Ihre Handgelenke sind spröde geworden, ihre Wangen hohl und grau. Wie häßlich sie aussehen mußte. Sie sah Joy in die Augen, der sie ohne einen Lidschlag anstarrte.
    Der Anwalt setzte sich einen Helm aus Locken auf den Kopf. Der Richter kam herein, und alle erhoben sich.
    »Euer Ehren«, sagte der Anwalt in perfektem, britischem Englisch, »ich plädiere auf Freilassung auf Kaution für meine Mandantin Miss Sheherezade Haque.«
    »Die Anklage ist nicht kautionsfähig«, erwiderte der Richter, wobei er sich räusperte und so tat, als würde er ausspucken. Natürlich war die Anklage nicht kautionsfähig. Sie sollte es auch nicht sein.
    »Euer Ehren, wir fechten die Anklage des Hochverrats an. Miss Haque – wenn es in der Tat Miss Haque war – hat nichts weiter getan, als die Freiheit auszuüben, die ihr von der Verfassung des Staates Bangladesch garantiert wird.«
    »Darf ich Sie daran erinnern, daß wir im Kriegsrecht leben, Sir?«
    »Richtig, Euer Ehren, aber ich habe mir die Freiheit gestattet anzunehmen, daß Sie einer höheren Autorität gehorchen, Sir. Unserer demokratischen Verfassung.«
    Der Richter legte eine Pause ein und wandte sich dann an Maya. »Und auf was würden Sie plädieren, Miss Haque, wenn Sie zu entscheiden hätten? Hochverrat ist ein sehr schwerwiegender Vorwurf, wie Sie wissen.«
    Mayas Stimme war heiser. »Ich habe keinen Hochverrat begangen, Euer Ehren«, sagte sie. »Man kann mir nichts weiter vorwerfen, als daß ich die Wahrheit gesagt habe.«
    »Einem Mitbürger das Recht zum Protest zu nehmen ist ein ernstes Vergehen, Euer Ehren. Wie Sie wissen, ging es in dem zur Debatte stehenden Artikel vornehmlich um den Aufruf, Kriegsverbrecher vor Gericht zu bringen, und nicht um eine Beleidigung des Staatsoberhaupts.«
    Das Gesicht des Richters wurde schmal. »Was wollen Sie von diesem Gerichtshof?«
    Der Anwalt hob die Arme. »Miss Haques Bruder war ein Freiheitskämpfer. Ihre Mutter ist eine stille Heldin der Revolution. Die Angeklagte folgt dem Vorbild ihrer Familie, nichts weiter. Ich möchte an das Ideal der Gerechtigkeit appellieren, dem Ihr Gericht verpflichtet ist.«
    Der Richter schien sich das durch den Kopf gehen zu lassen. »Sie waren Freiheitskämpferin, Miss Haque?«
    »Ja, Euer Ehren, das war ich, und das bin ich immer noch.«
    Er musterte sie durchdringend von oben herab, als könne er so die Wahrhaftigkeit ihrer Aussage feststellen. »Dann werdenwir Ihr Schicksal vom Gericht entscheiden lassen. Kaution wird zugelassen«, sagte er wenig freundlich. »Miss Haque, Sie sind frei und können nach Hause gehen.«

    Als der Richter das Urteil gesprochen hatte, blickte Maya auf der Suche nach Joy hinter sich. Sie mußte zweimal, dreimal hinschauen – hinten im Saal stand Sohail. Er hatte den Kopf gesenkt, so daß sie nur den dicken Turban auf seinem Kopf sah, der die Gebetskappe ersetzt hatte. Er murmelte etwas vor sich hin, dann blickte er auf und ihr direkt in die Augen. Maya merkte, wie die Beine unter ihr und ihrem schrecklich schweren Gewicht nachgaben. »Ich muß hier raus«, sagte sie zum Anwalt, »bitte machen Sie schnell.« Sie ging nach hinten zu Sohail, faßte nach seiner Hand und fragte: »Ist Zaid gefunden worden?«
    »Letzten Samstag, im Wasser.« Seine Augen waren dunkel und verhangen. Sie hatten es vor ihr geheimgehalten. Sie hatten ihn begraben und ihre Gebete geflüstert.
    Das war also das Fazit ihres Lebens: Der Leichnam eines kleinen Jungen, der ans Ufer des Jamuna gespült worden war. Sie wollte sich Sohail zu Füßen werfen und um Vergebung bitten, aber sie verdiente sie nicht. Sie wartete darauf, daß er sie schlug. Daß die Lippe wieder aufplatzte. Unwillkürlich sprach sie ihre Gedanken laut aus. »Ich wollte ihn retten.«
    »Er war nicht dein Sohn; ihn zu retten, war nicht deine Aufgabe«, sagte Sohail nur.
    Er war nicht ihr Sohn. Er war nie ihr Sohn gewesen. Aber zu wem hatte er dann gehört? Zu diesem verkleideten Vater, der hinter einer hohen Mauer, hinter einem Vorhang aus Versen lebte? Sie spürte, wie die Bitterkeit ihr die Kehle hochstieg. »Du hast ihn in diese Gefahr gebracht, Sohail – ich habe versucht, dich zu
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