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Mein fremder Bruder

Mein fremder Bruder

Titel: Mein fremder Bruder
Autoren: Tahmima Anam
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unbedingt, daß ihr Bruder zu ihr zurückkommt, daß sie ihren eigenen Schwur mißachtet hatte. Erstens. Füge. Anderen. Keinen. Schaden. Zu.
    Eine kleine Hand landet auf ihrer Wange. Die Lippe platzt wieder auf. »Iß, du Miststück. Ich will nicht die Verantwortung für deinen Tod tragen.«

    Tage später, vielleicht eine Woche, sie weiß es nicht, wird sie in einen Transporter verfrachtet. Die Hände mit einem Seil zusammengebunden, Landgeruch in den Nasenlöchern, Gras und Reisfelder und trocknende Kuhfladen bis zum Stadtrand. Ein Mann trägt ihren Namen in ein Register ein.
    In Rajshahi war sie von Kindern umgeben. Sie hat den Überblick verloren, wie viele sie mit in die Welt gebracht hat, aber über die, die sie begraben hat, führte sie Buch. Tot, wegen Cholera oder Schlangenbiß oder dem plötzlichen Anschwellen eines nahen Flusses oder weil die Dose Milch zu teuer war, als die Mutterbrust versiegte, oder ohne jeden Grund. Ohne jeden Grund hat sie einhundertsiebenunddreißig Kinder unter die Erde gebracht.
    Jedes davon hat sie geliebt, auch wenn sie viele der Kinder gerade einmal lang genug kannte, um den Tod festzustellen, das Ohr an die kleine Brust zu legen und den Müttern mitzuteilen, daß es vorbei und nichts mehr zu machen war. Doch keines, weder lebend noch tot, hatte ihr Herz so leicht erobert. Ein Kauderwelsch redendes, falschspielendes, verschwindendes Phantom von einem Kind.

    *

    Zentrale Justizvollzugsanstalt Dhaka. Ein großer, quadratischer, mit Frauen vollgestopfter Raum. Die Luft ist dick vom Geruch nach Urin und dem Atem von zu vielen. Das Gefängnis ist genau wie der Rest des Landes: zu viele Menschen. Alle sind arm. Der Tod ist nie mehr als ein paar Schritte entfernt, die Geburt genauso. Eine Frau in Wehen wird mit herunterhängendem Kopf weggetragen. Maya hätte ihr helfen können, tut aber nichts. Eine alte Frau kämmt ihr die Haare. Es tut weh, sie hat Wunden am Kopf. Hör auf, sagt sie. Wasser wird ihr ins Gesicht gespritzt. Essen geht durch salzige, faltige Hände. Maya öffnet die Augen. Die Frau ist ein dunkler Schatten, ihre weißen Augäpfel sehen wie aufgemalt aus.

    Bruchstücke ihres Lebens kommen zu ihr zurück. Baden im Teich mit Nazia. Der Duft der Sesamfelder. Die brennenden Bücher im Garten. Sohails Stimme. Ich habe getötet, Maya. Ich habe getötet. Damit er nicht so wird wie ich. Es war nicht Piya, es war Silvi. Es war der Krieg. Der Krieg ist schuld, daß es zu spät war. Ich habe getötet. Jetzt kennt sie das schreckliche Gewicht des Todes.
    Jemand ruft ihren Namen. Sie wird zu den Gitterstäben vorn in der Zelle geführt. Auf der anderen Seite hockt Joy. Sie hebt den Blick und sieht, daß er weint. Sie erwägt, einen Witz zu machen, daß sie jetzt endlich etwas gemeinsam haben, weil sie beide Knackis sind, aber sie will nur eines wissen: »Wo ist er?«
    Joy läßt den Kopf sinken. »Er ist noch nicht gefunden worden.«
    Mehr Licht fällt herein. Jetzt kann sie seinen ganzen Körper sehen, die breiten Schultern, die Schuhe mit den dicken Sohlen. Bisher ist ihr nicht bewußt gewesen, wieviel Angst sie hat, aber jetzt strecken sich ihre Hände vor und rütteln wie ein Tier an den Gitterstäben.
    »Ich hole dich hier raus«, sagte Joy. »Aber es wird ein paar Wochen dauern.«
    Sie hört auf zu rütteln. Draußen wird sie sich dem stellenmüssen, was sie getan hat. Sie wagt nicht zu fragen, was Ammu gesagt hat, als sie es erfahren hat. Und Sohail. Was hat Sohail gesagt? »Ich will nicht raus. Ich will hier drin bleiben.«
    »Jetzt rede keinen Unsinn, Maya. Ich habe einen guten Anwalt gefunden, der sich für dich einsetzt.«
    »Du willst mich sowieso nicht mehr heiraten, das weiß ich genau. Was wird deine Mutter dazu sagen?«
    »Sie weiß Bescheid. Ich habe ihr gesagt, daß du nur den Jungen befreien wolltest, nichts weiter. Es war nicht deine Schuld.«
    Er verschränkt seine Finger mit ihren. Eine Frage kommt ihr über die Lippen. »Warst du wütend, als dein Vater gestorben ist?«
    »Warum?«
    »Ich würde das gern wissen.«
    »Ich war so wütend, daß ich mit meinem Gewehr durch die Straßen gezogen bin und jeden umbringen wollte, der wie ein Bihari oder Pakistani aussah. Deswegen hat meine Mutter mich nach Amerika geschickt – damit ich niemanden ermorde.«
    Jetzt versteht sie endlich, warum er so überstürzt weggegangen ist. Und wie grausam sie ihm gegenüber gewesen ist. Sticht wie eine Biene.
    »Der Anwalt versucht, Druck zu machen, damit es möglichst schnell
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