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Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)

Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)

Titel: Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)
Autoren: Helmut Schmidt
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globale Ausdehnung Europas. Im Kern ging es jedoch immer um die Mitte Europas. Bei jedem Versuch der Machtakkumulation durch die Begründung von Weltreichen in Übersee – Spanien, Portugal, Holland, England – ging es im Grunde um den Machteinfluss im europäischen Zentrum, und im Zentrum lag immer Deutschland. Alle Bemühungen der Nachbarn waren darauf gerichtet, dieses Deutschland politisch gespalten zu halten. Als das nach 1871 nicht mehr ging, begann das große Durcheinander.
    SCHMIDT:
    Wichtig ist zu erkennen, dass dieses Zentrum niemals ein eigenes Machtzentrum gewesen ist – mit wenigen Ausnahmen. Die erste Ausnahme war Karl der Große heute vor zwölfhundert Jahren, die letzte war Adolf Nazi. Dazwischen war das Zentrum meist weitgehend machtlos, Kampfzone der Randmächte. Die wichtigsten haben Sie genannt, die Spanier, die Portugiesen, die Engländer, man muss in diesem Zusammenhang wohl auch die Schweden, die Franzosen, die Russen nennen. Das Heilige Römische Reich deutscher Nation war ein machtloses Gebilde. Vielleicht kann man zu den Ausnahmen noch Karl V. zählen, unter bestimmten Bedingungen auch Napoleon.
    FISCHER:
    Im politischen Bewusstsein der Deutschen ist diese Problematik der Mittellage heute so gut wie nicht mehr vorhanden. Bei Bismarck hieß das Hammer oder Amboss, eine furchtbare Alternative, wenn man sich die deutsche Geschichte anschaut; weder das eine noch das andere ist eine berückende Option. Mit Blick auf die ökonomische Dominanz oder Superdominanz, in der sich die Deutschen zurzeit befinden, halte ich es für dringend erforderlich, diese historischen Konnotationen zu berücksichtigen, die eine deutsche Vormachtstellung bei unseren Nachbarn auslöst.
    DIE ZEIT:
    Aber ist Europa nicht seit langem und durchaus mit Erfolg bemüht, nationalstaatliches Denken über Bord zu werfen, den Nationalstaat zu überwinden?
    SCHMIDT:
    Der Nationalstaat wird nicht überwunden werden, jedenfalls nicht in diesem Jahrhundert.
    FISCHER:
    Ich stimme Ihnen hier ausdrücklich zu, ich glaube sogar, den Nationalstaat wird es noch lange über dieses Jahrhundert hinaus geben. Das ist der Kern dessen, was neu gedacht werden muss, wenn man sich als europäischer Föderalist bezeichnet: das Verhältnis des Nationalstaats zu Europa. Diese Vorstellung, es gibt da die Kommission, das ist eigentlich eine europäische Regierung im Wartestand, und eines Tages werden die nationalen Regierungen abtreten, und es wird antreten eine europäische Regierung namens Kommission, verantwortlich nur dem europäischen Parlament – so wird das nicht laufen. Denn so lange wird die Europäische Union einfach nicht mehr funktionieren, wenn die zentrifugalen nationalen Kräfte sich durchsetzen. Wenn Frau Le Pen gewählt wird und ernst macht mit dem Euro-Austritt Frankreichs, dann war’s das.
    DIE ZEIT:
    Solange wir die Währungsunion haben und auf eine Wirtschafts-, Fiskal- und Bankenunion hinsteuern …
    SCHMIDT:
    Eine Währungsunion haben wir nicht in Wirklichkeit. Was wir haben, ist eine europäische Zentralbank, die in der Lage ist, Geld zu drucken. Wir haben in Wahrheit keine Währungsunion.
    DIE ZEIT:
    Aber wir haben das Ziel einer Wirtschafts- und Währungsunion, nicht zuletzt auch um den Nationalstaat zu überwinden …
    SCHMIDT:
    Nein. Der Nationalstaat bleibt am Leben.
    FISCHER:
    Den muss man auch nicht überwinden. Ich will ihn nur in etwas modifizierter Form. Ich glaube, der Fehler ist, dass wir als Vorbild insgeheim immer Amerika im Hinterkopf haben. Wir sollten uns besser die Schweiz anschauen. Von der Schweiz – ohne das eins zu eins übertragen zu können – lässt sich sehr viel mehr für die Zukunft des europäischen Föderalismus lernen, als das beim amerikanischen Modell der Fall ist. Wir sprechen nicht eine Sprache. Die europäischen Nationen sind alle um das Jahr 1000 herum entstanden, und seitdem gibt es unterschiedliche politische Kulturen, unterschiedliche historische Narrative. Lässt sich das alles zusammenführen auf einer Grundlage, bei der die nationalen Überlieferungen einschließlich der Nationalstaaten selbst auf lange Sicht eine sehr viel stärkere Rolle spielen werden, als das der Fall war in den USA ? Ich meine, ja.
    SCHMIDT:
    Der Nationalstaat reicht auf Dauer nicht aus, aber auch der Staatenbund reicht nicht aus. Wir reden von Europa, und zwar von dem gegenwärtigen Europa, als von einem Aliud, einem Dritten, das es noch nicht gibt und das weder Nationalstaat ist noch Staatenbund.
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