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Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)

Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)

Titel: Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)
Autoren: Helmut Schmidt
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die Kraft zur Infragestellung der obersten kirchlichen Autorität. In der direkten Kommunikation zwischen dem Individuum und seinem Schöpfer entstand die Freiheit des Individuums. Und dies wiederum eröffnete Perspektiven zu einem viel weiter gehenden Freiheitsgedanken. Die Menschenrechte sind für mich Ausfluss dieser geistigen Strömung.
    SCHMIDT:
    Ich würde diese geistige Bewegung, die Sie sehen, nicht mit Luther beginnen lassen, ich würde sie tatsächlich in der Aufklärung beginnen lassen, deutlich in Erscheinung getreten das erste Mal in der Französischen Revolution. Luther hat immerhin den Antisemitismus gewaltig gefördert und sich mit Nachdruck gegen die Bauern gestellt.
    DIE ZEIT:
    Wo auch immer wir die Vorgeschichte beginnen lassen, heute sind die Menschenrechte Teil der UN -Charta, unterzeichnet von jedem einzelnen Mitglied der Vereinten Nationen im Moment des Beitritts. Darauf können sich alle berufen, und schon das halte ich für ein europäisches Vermächtnis. Trotzdem noch einmal die Frage: Welche Rolle spielt Europa darüber hinaus, machtpolitisch, als dritte Kraft zwischen den Blöcken?
    FISCHER:
    In einem sind sich Washington und Beijing sofort einig: Die Europäer spielen keine Rolle mehr; wir müssen dort unsere Interessen sichern, sagen beide Mächte, aber ernst zu nehmen sind die Europäer nicht. Ich habe in Beijing mehr Sorge über die Zukunft des Euro erlebt als in Berlin, um ehrlich zu sein.
    SCHMIDT:
    Im Grunde sind wir uns einig darüber, dass der Einfluss der Europäer auf den Rest der Welt zurückgeht – und zwar deutlich.
    FISCHER:
    Daraus ergibt sich für mich die Frage: Sind andere in der Lage, unsere Interessen einigermaßen gleichrangig zu vertreten, mit einigen wenigen Abstrichen oder sogar besser, als wir das könnten? Die Einzigen, die mir einfallen, sind die USA , aber die Entwicklung dort geht eher in die Richtung, nicht mehr für andere da sein zu wollen. Gleichzeitig müssen wir sehr achtgeben in den kommenden zwei Jahrzehnten, dass Europa nicht zum Streitfall zwischen China und Amerika wird. Man könnte in Washington wie in Beijing eines Tages zu der Ansicht gelangen, dass Europa den tipping point ausmacht in der globalen Machtbalance der G 2 , das Zünglein an der Waage der beiden. Und da könnte Deutschland, wenn es nicht zu mehr Integration in Europa kommt, durchaus wieder in einer nicht sehr komfortablen Mittellage sein, nämlich wirtschaftlich von beiden abzuhängen, mehr noch von China als von den USA . Integriert in ein stärkeres Europa, würde Deutschland eine andere Antwort finden können. Auch unter diesem Gesichtspunkt erachte ich die europäische Integration für uns von ganz zentraler Bedeutung. In Paris gibt es diese Debatte bereits heute: Wohin geht Deutschland? Die Franzosen meinen immer noch, nach Russland – das halte ich für einen Irrtum. Aber die wachsende wirtschaftliche Abhängigkeit von China würde ich nicht unterschätzen.
    SCHMIDT:
    In diesem Zusammenhang möchte ich einmal erinnern: Seit wann gibt es eigentlich die Deutschen als Nation? In Wirklichkeit hat das Bewusstsein, eine Nation zu sein, sich in Deutschland erst durchgesetzt nach 1871 . Ein Nationenbewusstsein hat es in Frankreich gegeben, hat es in England gegeben, hat es in Holland gegeben – hat es bis zur Mitte des 19 . Jahrhunderts nicht gegeben in Italien und nicht in Deutschland. Das Nationenbewusstsein der Deutschen hat sich entwickelt zwischen 1871 und 1914 , ist dann nach 1933 ins Überdimensionale gewachsen und 1945 zusammengebrochen. Heute halten wir es wieder für selbstverständlich, eine Nation zu sein. Für meinen Großvater war das gar nicht selbstverständlich.
    DIE ZEIT:
    Worauf wollen Sie hinaus, Herr Schmidt?
    SCHMIDT:
    Wenn Joschka Fischer hier die Frage stellt, wohin geht Deutschland, und von der Aufgabe der Deutschen redet, dann stelle ich die Frage: Wer sind die Deutschen? Seit wann gibt es sie eigentlich? Die Deutschen als Nation gibt es in Wirklichkeit erst seit hundertfünfzig Jahren.
    FISCHER:
    Ich lese gerade ein faszinierendes Buch von einem englischen Historiker, ich muss es mal kurz herausholen: Brendan Simms:
The Struggle for Supremacy. 1453 to the Present
. Ein faszinierendes Buch! Die Ausgangsthese ist, dass die globale Ausdehnung Europas mit dem Fall Konstantinopels begann, weil dessen Eroberung durch die Türken 1453 Heinrich den Seefahrer und andere zur Flankenbewegung im Abwehrkampf gegen die Türken zwang, und so entwickelte sich die
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