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Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)

Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)

Titel: Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)
Autoren: Helmut Schmidt
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an den anderen zu reihen, die sogenannte Perlenkette, um sich abzusichern.
    SCHMIDT:
    In Kenntnis der chinesischen Geschichte würde ich sagen, bisher haben die Chinesen sich sehr viel zurückhaltender gegenüber fremden Völkern benommen als etwa die Engländer, die Franzosen, die Italiener, die Spanier, die Portugiesen und zum Schluss auch noch die Deutschen – sehr viel zurückhaltender. Mein Kronzeuge ist der sagenhafte Admiral Zheng He, der zu Beginn des 15 . Jahrhunderts über Schiffe verfügte, die um ein Vielfaches größer waren als die Schiffe, mit denen hundert Jahre später Vasco da Gama oder Christoph Kolumbus ihre Eroberungen eingeleitet haben. Die Schiffe waren nicht nur um ein Vielfaches größer, sie trugen außer ihren Besatzungen auch mehr als 25 000  Soldaten an Bord. Die spanische Armada war eine Badewannenflotte im Vergleich mit dieser Flotte der Chinesen. Aber die Chinesen haben weder Japan erobert, noch haben sie Indien erobert oder Indonesien. Sie haben auch keine Kolonien errichtet. Sie waren zufrieden, das Reich der Mitte zu sein. Die Fremden kamen, mussten dreimal Kotau machen, mit der Nase am Boden, durften ihre Geschenke abliefern und wurden in Gnaden wieder entlassen. Es spricht vieles dafür, dass die Chinesen auch in Zukunft bei dieser Politik bleiben.
    DIE ZEIT:
    Die Frage ist, ob man aus der chinesischen Geschichte lernen kann, ob man aus Geschichte überhaupt lernen kann. Die Zeiten sind doch andere. Heute kommen die Amerikaner und andere nicht, machen Kotau, tauschen Geschenke und gehen wieder, sondern heute errichten sie Stützpunkte, und die Chinesen wären dumm, wenn sie sich dem nicht anpassten.
    FISCHER:
    Ich denke, man muss unterscheiden zwischen der globalen Macht China und der Regionalmacht China. Wenn ich in Ostasien zu Hause wäre, außerhalb Chinas, würde ich mich nicht sehr gemütlich fühlen. Wenn China klug ist, begreift es, welche Ängste seine Nachbarn vor ihm haben, die Vietnamesen, die Malaien, die Indonesier – ich spreche gar nicht von den Japanern oder Südkoreanern. Wenn die Chinesen dort als Großmacht auftreten mit imperialem Gestus, was durchaus sein kann, werden sie große Probleme bekommen. Es liegt im übrigen im Interesse Chinas, dass die USA dort präsent sind, weil nur die USA die Widersprüche in dieser Region so ausbalancieren können, dass es nicht zu der Gefahr einer militärischen Konfrontation kommt.
    China als Weltmacht ist etwas anderes, und da neige ich sehr stark Ihnen zu, Herr Bundeskanzler. Sie haben lange die Bundesrepublik Deutschland West regiert; ich glaube, wir können uns nicht vorstellen, was es heißt, ein Land mit 1 , 3  Milliarden Menschen zu regieren. Die chinesische Regierung, das Politbüro, die Entscheidungsträger an der Spitze müssen sich im Zustand eines permanenten Overstretch befinden – das Land zusammenzuhalten, die Leute satt zu machen, die nationalen Interessen zu verteidigen. Bei 1 , 3  Milliarden Menschen, glaube ich, bewegt man sich in einer auch qualitativ anderen Dimension. Hier kommt nun die chinesische Zivilisation ins Spiel, die ich sehr verehre; aber letztendlich ist der Konfuzianismus eine Zivilisation für die Chinesen. Einen universalen Werteanspruch, wie ihn die westliche Zivilisation kennt, hat der Konfuzianismus in meinen Augen nicht.
    DIE ZEIT:
    Was den westlichen Wertekanon angeht, hat Herr Schmidt darauf hingewiesen, dass die Menschenrechte ein Teil dieses Kanons sind, für den außerhalb der europäischen oder nordatlantischen Kultur aber kaum jemand Verständnis hat. Herr Fischer hat die Unabhängigkeit des Rechts hervorgehoben. Gibt es weitere Beiträge des europäischen Wertekanons zur zivilisatorischen Entwicklung im 21 . Jahrhundert?
    SCHMIDT:
    Das wirft zunächst die Frage auf, seit wann es den Begriff des Wertekanons eigentlich gibt. Hat es den im 17 . Jahrhundert schon gegeben? Seit wann gibt es den Begriff der Menschenrechte?
    Die
Zeit:
Seit der Französischen Revolution, also seit gut zweihundert Jahren.
    SCHMIDT:
    In der Bibel jedenfalls kommt er nicht vor.
    FISCHER:
    Aber die Reformation trägt ganz wesentlich zur Freiheit des Christenmenschen bei. Die Menschenrechte sind ja Ausfluss einer tieferen geistigen Strömung, die ihren Anfang nahm im Dualismus zwischen Kaiser und Papst; im römisch dominierten Westen Europas konnte sich eine unitäre oberste Macht nicht durchsetzen. Aus diesem Dualismus hat sich dann hier in Deutschland die Reformation entwickelt, das heißt,
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