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Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)

Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)

Titel: Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)
Autoren: Helmut Schmidt
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reden?
    FISCHER:
    Nein. Man könnte vielleicht die These aufstellen, dass die Globalisierung die Großzivilisationen sehr viel mehr in den Vordergrund bringt, als das früher der Fall war, zur Zeit des europäischen Kolonialismus und der Nationalstaaten. Weil die Globalisierung Großräume geöffnet hat. Die arabisch-muslimische Welt ist ein anderes Beispiel einer solchen Großzivilisation, die erst durch die Globalisierung wieder in unseren Blick gerückt ist. Und in diesem Sinne würde ich heute auch von der transatlantischen Zivilisation sprechen. Mit chinesischen Augen oder indischen Augen gesehen, sind Differenzen der Europäer untereinander nicht wirklich wahrnehmbar. Umgekehrt wird ein Europäer, der sich China oder Indien genauer anschaut, feststellen, dass es da große Unterschiede gibt zwischen Nord und Süd oder Ost und West. Es gab Zeiten, da spielte das eine nachrangige Rolle, da kamen weite Teile der Weltbevölkerung überhaupt nicht vor, selbst die größten Imperien lebten weitgehend isoliert voneinander. Der Begriff Zivilisation wird aktualisiert werden und eine größere Bedeutung bekommen.
    DIE ZEIT:
    Was sehen Sie als den entscheidenden Beitrag der europäischen Zivilisation zu dieser globalen Entwicklung? Was würde die Welt verlieren, wenn Europa vor die Hunde geht?
    SCHMIDT:
    Jedenfalls hätte sie ein Problem weniger, das wir Europäer für ein Problem halten, nämlich die Verantwortung für die sogenannten Menschenrechte, die responsibility to protect. Aus dieser Verantwortung heraus sind die Europäer heute notfalls bereit, Kriege zu führen – die Chinesen nicht.
    DIE ZEIT:
    Noch nicht. Aber Zivilisationen entwickeln sich und beeinflussen sich, und es gibt heute schon Chinesen, die sich für Menschenrechte aussprechen.
    SCHMIDT:
    Ja, die gibt es immer, es gibt immer solche intellektuellen Minderheiten.
    FISCHER:
    Wenn man sich die Entwicklung der letzten zwanzig Jahre anschaut, stellt sich für mich folgende Frage: Sind die anderen dabei – Chinesen, Inder, Muslime –, sich mehr zu europäisieren, oder sind wir es, die sich mehr sinisieren, indisieren, muslimisieren? Jedenfalls ist China heute, bei allem, was es da an Abwehr gibt, der Idee der Menschenrechte und ihrer Verwirklichung sehr viel näher, als das noch vor zwanzig Jahren der Fall war. Dasselbe gilt für die islamische Welt – mit allem, was es da zu beklagen gibt. Das heißt, mit der Verbreitung der westlichen Zivilisation wird auch deren normative Grundlage universaler.
    DIE ZEIT:
    Normativ aus welcher Perspektive?
    FISCHER:
    Ich spreche von der Unabhängigkeit des Rechts und damit auch von den Menschenrechten. Das ist eines der ganz großen Probleme in Russland und in China, weil sich eine freie Wirtschaft ohne klare Gewaltenteilung und ohne unabhängige Justiz sehr schwertut. Wir haben vorhin über die Türkei geredet. Für mich war es erstaunlich zu sehen, dass Erdogan, der ja in Syrien intervenieren und klassische türkische Machtpolitik betreiben wollte, den Rückwärtsgang einlegen musste, weil die türkische Öffentlichkeit heute dem Individuum, sprich: dem möglichen Verlust von Leben von Soldaten, eine sehr viel höhere Bedeutung beimisst, als das noch vor einem Jahrzehnt der Fall war. Ähnliches hört man aus den entwickelten Regionen in China, wo immer wieder Arbeitsbedingungen und Umweltzerstörungen angeprangert werden. Insofern hängt die heutige chinesische Führung sehr viel mehr ab von den Wünschen und der Stimmung in der Bevölkerung als das noch für die vorletzte Regierung gegolten hat.
    SCHMIDT:
    Dass die verschiedenen Kulturen sich gegenseitig beeinflussen, ist eine ziemliche Novität. Die alten Ägypter hatten keine Ahnung von der gleichzeitigen Existenz eines Kaisers von China. Und kein Kaiser von China hatte eine Vorstellung von der gleichzeitigen Existenz der Perser. Die Ersten, die die Unabhängigkeit der Rechtsprechung zustande gebracht haben, waren die Römer, und man kann deshalb wohl sagen, es sei eine europäische Erfindung.
    DIE ZEIT:
    Dass viele Chinesen heute möglicherweise europäischer denken als ihre Väter und Großväter, ist das eine. Etwas anderes ist die globale Machtverschiebung. Die Chinesen fangen an aufzurüsten, sie bauen Flugzeugträger, der Militärsektor verzeichnet jährlich zweistellige Wachstumsraten. Vieles deutet darauf hin, dass sie zumindest den westlichen Pazifik als ihre Hemisphäre betrachten, und sie haben angefangen, im Indischen Ozean einen Stützpunkt
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