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Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)

Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)

Titel: Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)
Autoren: Helmut Schmidt
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führt oder nicht, war nicht der entscheidende Punkt und ist für mich eine offene Frage.
    SCHMIDT:
    Verhandlungen können eines Tages zur Vollmitgliedschaft führen. Dann muss man wissen, dass die Türken sehr zeugungsfreudig sind und es vor dem Ende des 21 . Jahrhunderts hundert Millionen Türken geben wird.
    FISCHER:
    Wobei mit Beginn der Modernisierung die Geburtenrate auch in der Türkei abgeflacht ist, das darf man nicht unterschätzen. Die Türkei ist heute eine andere, sie hat sich dramatisch gewandelt, nicht nur im Großraum Istanbul oder an der Mittelmeerküste, sondern sehr stark jetzt auch in den Metropolen in Anatolien. Umso bitterer ist es, wenn man sieht, wie der Premierminister seine eigenen Erfolge infrage stellt.
    SCHMIDT:
    Es gibt zwei Faktoren, die unveränderlich bleiben. Der eine ist das Kurdenproblem – das sind immerhin 15  Millionen, vielleicht ein paar mehr –, und der andere ist die Tatsache, dass die Masse der Türken muslimisch ist. Letzteres ist der noch wichtigere Faktor. Die Aufnahme der Türkei in die Europäische Union bedeutet Freizügigkeit für alle Türken, und die werden mit zig Millionen nach Mitteleuropa drängen.
    FISCHER:
    Ich glaube, dass kurzfristig niemand daran denkt, dass es so weit kommt. Fakt ist, dass wir jetzt schon die Rückwanderung gut ausgebildeter junger Deutschtürken erleben, die einfach genug davon haben, dass sie permanent in ihrer Identität infrage gestellt werden. Die sind in Berufen tätig, die sehr nachgefragt und gut bezahlt sind. Das strategische Interesse an der Türkei, das wir haben, macht sich nicht fest an der Frage der Vollmitgliedschaft, ja oder nein. Ob es so weit kommt – ich wiederhole es nochmals –, das weiß ich nicht, ja, ich bezweifle mittlerweile sogar, dass die Mehrheit der Türken noch ein Interesse an der Vollmitgliedschaft hat. Nichtsdestotrotz wird die Türkei für Europa wirtschaftlich und strategisch ein zentraler Partner in dieser Krisenregion sein, und insofern hat die Beitrittsperspektive, die ja heute faktisch eingefroren ist, unter Modernisierungsgesichtspunkten sehr viel gebracht. Es wurde mir von verschiedener Seite in der Türkei bestätigt, dass die Status-Verbesserung in Kopenhagen der entscheidende Punkt war.
    DIE ZEIT:
    Das bedeutet aber doch – trotz aller Bekenntnisse zur Türkei –, dass Sie den Beitrittsgesprächen kein positives Ergebnis einräumen.
    FISCHER:
    Doch, doch! Das ist nicht der Punkt. Ich weiß nur nicht, ob es so weit kommen wird. Erst einmal finde ich es vernünftig, dass die Kultusminister sich jetzt endlich geöffnet und entschieden haben, islamischen Religionsunterricht so zu organisieren wie anderen Religionsunterricht auch, dass an den Universitäten jetzt islamische Theologie angeboten wird. Im übrigen haben wir das Problem des Islams durch Zuwanderung überall in Europa. Bei uns werden die islamischen Zuwanderer eher aus der Türkei kommen, in Frankreich eher aus dem Maghreb, in Großbritannien vom indischen Subkontinent, in Skandinavien, in Benelux, in Italien, überall haben wir das gleiche Phänomen – Spanien hat schon heute eine sehr starke muslimische Zuwanderung. Das hat nicht direkt mit der Frage der Mitgliedschaft der Türkei zu tun; das Problem eines europäischen Islam ist da, und es wird nicht wieder verschwinden, sondern es wird eher zunehmen.
    SCHMIDT:
    Vor neunzig Jahren begründete Kemal Atatürk die laizistische Türkei, aber im Laufe der Jahre, die seither vergangen sind, hat eine Reislamisierung der Türken stattgefunden. Und im Jahr 2050 wird der Islam in der Türkei eine größere Rolle spielen, als er sie im Jahr 2013 spielt. Deswegen kommt die Türkei für mich als Mitgliedsland der Europäischen Union nicht in Betracht. Aus ähnlichen Gründen gebe ich auch der Ukraine und Weißrussland keine Chance. Der älteste russische Staat war die Kiewer Rus, das heißt, Russland ist in der Ukraine begründet worden als Staat; seither hat die Ukraine zu Russland gehört, und da gehört sie auch im 21 . Jahrhundert hin. Es handelt sich um eine Bevölkerung von knapp fünfzig Millionen – mehr als Polen –, und jeder Versuch, dem Putin auch noch die Ukraine wegzunehmen, ist Größenwahn. Wozu eigentlich? Nur um dieses unfähige Europa noch unfähiger zu machen? Ich habe nichts dagegen, wenn die Ukrainer und die Weißrussen sich am gemeinsamen Markt beteiligen wollen – das gilt auch für die Türken –, aber sie in diesen Verbund, der angeblich eine
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