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Mein erfundenes Land

Mein erfundenes Land

Titel: Mein erfundenes Land
Autoren: Isabel Allende
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enden wollenden Überfahrt mit dem Boot die Höhle besichtigen, in der der Schotte dank Wurzelgemüse und Fisch überlebte.
    Die Abgeschiedenheit gibt uns Chilenen die Mentalität eines Inselvolks, und die großartige Schönheit des Landes macht uns überheblich. Wir halten uns für den Nabel der Welt – Greenwich sollte in Santiago liegen, finden wir – und kehren Lateinamerika den Rücken, da wir uns von jeher mit Europa vergleichen. Wir sind egozentrisch und brauchen den Rest des Universums einzig, damit er unsere Weine trinkt und Fußballmannschaften zusammenstellt, die wir besiegen können.
    Dem Besucher rate ich, die Wunder, die er über das Land, seinen Wein und seine Frauen hört, nicht in Zweifel zu ziehen, denn dem Fremden ist das Kritisieren nicht gestattet; dafür gibt es über fünfzehn Millionen Einheimische, die das unentwegt tun, sobald sie unter sich sind. Wäre indes Marco Polo nach dreißig abenteuerlichen Jahren in Asien anunseren Küsten an Land gegangen, man hätte ihn zunächst wissen lassen, daß unsere Empanadas viel besser schmecken als alles, was das Reich der Mitte an Speisen zu bieten hat. (Ach, ja! Auch das ist typisch für uns: Wir behaupten Dinge ins Blaue hinein, jedoch mit solcher Überzeugung, daß sie über jeden Zweifel erhaben sind.) Ich gestehe, auch ich bin von diesem haarsträubenden Nationalstolz befallen. Als ich zum ersten Mal in San Francisco war und über die sanften, goldenen Hügel blickte, auf die grandiosen Wälder und den grünen Spiegel der Bucht, war mein einziger Kommentar, hier sehe es aus wie an der Küste Chiles. Später bestätigte sich, daß die süßesten Früchte, die erlesensten Weine und der wohlschmeckendste Fisch aus Chile importiert waren – natürlich.
    Um mein Land im Herzen zu verstehen, muß man Pablo Neruda lesen, unseren Nationaldichter, der in seinen Versen die erhabenen Landschaften, die Düfte und Sonnenaufgänge verewigt hat, den beharrlichen Regen und die Würde der Habenichtse, den Stoizismus und die Gastlichkeit. Das ist das Land meiner Sehnsucht, das ich heraufbeschwöre in meinen Einsamkeiten, das so vielen meiner Geschichten als Hintergrund dient, das mir in Träumen erscheint. Natürlich hat Chile auch andere Gesichter: ein materialistisches Gesicht, hochnäsig, wie das eines Tigers, der ein Leben lang seine Streifen zählt und sich die Barthaare frisiert. Ein schwermütiges Gesicht, gezeichnet von den brutalen Narben der Vergangenheit. Ein heiteres, das den Touristen und Bankiers entgegenlächelt. Jenes, das resigniert auf die nächste geologische oder politische Katastrophe wartet. In Chile findet man alles.

Gaumenfreuden, Leierkästen und Zigeuner
    Meine Familie stammt aus Santiago, aber das erklärt nicht all meine Traumata: es gibt schlimmere Orte unter der Sonne. Dort wuchs ich auf, aber heute erkenne ich die Stadt kaum wieder und verlaufe mich in ihren Straßen. Soldaten hatten sie ursprünglich mit Schwertstreich und Spaten nach dem Grundriß alter spanischer Städte angelegt: eine Plaza de Armas in der Mitte, von der schnurgerade, parallele Straßen abgehen. Davon ist kaum mehr als die Erinnerung geblieben. Wie eine nimmersatte Krake hat Santiago seine Tentakel gierig in alle Richtungen ausgestreckt; heute beherbergt die Stadt fünfeinhalb Millionen Menschen, die sich nach Kräften durchschlagen. Die Stadt könnte schön sein, ihre Straßen sind sauber, und es fehlt nicht an Parks, doch trägt sie eine braune Haube aus verschmutzter Luft, die im Winter Säuglinge in der Wiege, Greise in den Altersheimen und Vögel im Flug umbringt. Die Bewohner Santiagos sind daran gewöhnt, den täglichen Smog-Index zu verfolgen wie die Börsennachrichten und Fußballergebnisse. Steigt der Index zu stark an, wird der Verkehr anhand der Nummernschilder eingeschränkt, für Schulkinder fällt der Sportunterricht aus, und man bemüht sich allenthalben, das Atmen weitgehend einzustellen. Der erste Regen des Jahres wäscht die Schmierage aus der Luft und fällt wie Säure auf die Stadt. Falls Sie ohne Regenschirm unterwegs sind, werden Sie glauben, man träufele Ihnen Zitronensaft in die Augen, aber keine Bange, blind ist davon noch niemand geworden. Und es gibt andere Tage: Manchmal ist der Himmel am Morgen wolkenlos, und man kann den herrlichen Blick auf die schneebedeckten Berge genießen.
    In Metropolen wie Caracas oder Mexiko-Stadt mögenArm und Reich sich mischen, aber in Santiago sind die Grenzen deutlich markiert. Lichtjahre liegen
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