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Mein erfundenes Land

Mein erfundenes Land

Titel: Mein erfundenes Land
Autoren: Isabel Allende
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festklammerten. Aber Vorsicht! Die Erinnerung ist ein Labyrinth, in dem Minotauren lauern.
    Hätte man mich vor kurzem gefragt, woher ich komme, ich hätte ohne langes Nachdenken geantwortet, von nirgendwo her oder aus Lateinamerika oder vielleicht im Herzen aus Chile. Heute jedoch sage ich, daß ich Amerikanerin bin, und das nicht nur, weil mein Paß es bezeugt oder weil dieses Wort den Norden wie den Süden umfaßt oder weil sich mein Mann, mein Sohn, meine Enkel, die meisten meiner Freunde, meine Bücher und mein Haus in Nordkalifornien befinden, sondern auch, weil vor nicht allzu langer Zeit die Zwillingstürme des World Trade Center durch ein terroristisches Attentat zerstört wurden, und in diesem Moment hat sich vieles verändert. In einer Krise kann man nicht neutral bleiben. Diese Tragödie hat mich mit meinem Identitätsgefühl konfrontiert, und ich spüre, daß ich heute Teil der bunten Bevölkerung Nordamerikas bin, so wie ich früher Chilenin war. Ich sehe die Vereinigten Staaten nicht mehr von außen. Als die Türme einstürzten, war mir, als hätte ich diesen Albtraum fast genauso schon einmal erlebt. Durch eine grausige Koinzidenz – historisches Karma – zerschellten die in den Vereinigten Staaten entführtenFlugzeuge an einem Dienstag, dem 11. September, genau am gleichen Wochentag und im gleichen Monat – und fast zur gleichen Stunde am Morgen –, an dem 1973 in Chile das Militär putschte. Damals war es ein terroristischer Akt gegen eine Demokratie, und die CIA hatte die Begleitmusik geliefert. Die brennenden Gebäude, der Rauch, die Flammen und die Panik – die Bilder ähneln sich hier wie dort. An jenem lange zurückliegenden Dienstag des Jahres 1973 brach mein Leben entzwei, nichts war wie zuvor, ich verlor mein Land. Auch dieser unselige Dienstag des Jahres 2001 markiert einen Wendepunkt, nichts wird mehr sein wie zuvor, und ich gewann ein Land.
    Der Bemerkung meines Enkels und der Frage jenes Unbekannten auf der Tagung verdankt sich dieses Buch, von dem ich noch nicht weiß, wohin es mich führen wird; noch streife ich umher, wie die Erinnerungen umherstreifen, aber ich bitte Sie, mich ein Stück auf meinem Weg zu begleiten.
    Ich schreibe diese Seiten in einem Krähennest hoch oben an einem steilen Hang, bewacht von hundert sturmgebeugten Eichen und mit Blick auf die Bucht von San Francisco, aber ich komme von einem anderen Ort. Das Heimweh ist mein Laster. Es ist ein schwermütiges Gefühl und auch ein wenig kitschig, wie die Rührung. Fast scheint es aussichtslos, das Thema ohne Sentimentalitäten in Angriff zu nehmen, aber ich will es versuchen. Falls ich ausrutsche und in Kitsch verfalle, seien Sie gewiß, daß ich mich einige Zeilen weiter wieder aufrappeln werde. In meinem Alter – ich bin so alt wie das synthetische Penizillin – kommen einem Dinge in den Sinn, die ein halbes Jahrhundert hindurch wie ausgelöscht waren. Ich habe jahrzehntelang nicht an meine Kindheit oder Jugend gedacht, ja, meine Vergangenheit lag mir so fern, daß ich beim Blättern in den Fotoalben meiner Mutter niemanden wiedererkannte, außer einer Bulldog-Hündin mit dem unglaublichen Namen Pelvina López-Pun, und auchdie ist mir nur in Erinnerung geblieben, weil wir uns bemerkenswert ähnlich sahen. Auf einem Foto von uns beiden, ich bin erst wenige Monate alt, mußte meine Mutter mit einem Pfeil markieren, wer wer ist. Mein schlechtes Gedächtnis ist sicher darauf zurückzuführen, daß diese Zeiten nicht eben glücklich waren, aber das ist wohl beim überwiegenden Teil der Sterblichen so. Die glückliche Kindheit ist ein Mythos. Um das zu begreifen, genügt ein Blick ins Märchenbuch, wo der Wolf die Großmutter frißt, dann der Förster kommt und das arme Tier mit seinem Messer der Länge nach aufschlitzt, die Großmutter lebendig und unversehrt herauszieht, den Wolfsbauch mit Wackersteinen füllt und sodann den Pelz mit Nadel und Faden vernäht, woraufhin der Wolf einen so fürchterlichen Durst bekommt, daß er zum Brunnen wankt, wegen der schweren Steine hineinfällt und ertrinkt. Mußte er denn so elendiglich ersaufen? Wäre es nicht auch anders gegangen? Einfacher? Humaner? Das frage ich mich. Und gewiß wäre es auch anders gegangen, aber in der Kindheit ist eben nichts einfach und human. Als ich Kind war, war das Wort »Kindesmißhandlung« noch nicht erfunden, und daß man die Kleinen am besten mit dem Lederriemen in der einen und dem Kreuz in der anderen Hand erzog, galt als ausgemacht wie das
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