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Meerestochter

Meerestochter

Titel: Meerestochter
Autoren: Serena David
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mit der Zeit vergaß er das; die Brandungslinie rückte weiter in die Ferne, und die Aussicht war einfach zu grandios.
    Als er endlich das Hochplateau erreicht hatte, stand er vor einem schmiedeeisernen Tor inmitten einer niedrigen, moosbewachsenen Natursteinmauer. Es quietschte, als er es sanft aufdrückte.
    Adrian schlenderte zwischen den altersgrauen Grabsteinen hindurch, die aus demselben Stein waren wie die Mauer und der Fels unter ihm. Schief und krumm staken sie im Boden, wie die Zähne eines vergammelten Gebisses. Vor einer halb von Efeu überwucherten Platte blieb er stehen. «Hi Mom, hi Dad», sagte er und ging in die Knie.
    Sacht fuhr er mit der Hand über die Messingtafel, die die Namen seiner Eltern und seines Onkels trug. Eine fischschwänzige Gestalt schmückte sie. Sie war blank poliert, und jemand hatte drei rote Rosen daraufgelegt, die noch nicht verwelkt waren. Adrian lächelte. Der Friedhof war alt, seit bald fünfzehn Jahren war er nun schon geschlossen. Seine Eltern waren die Letzten gewesen, die hier beerdigt worden waren. Der moderne Friedhof von Broxton lag an der Küstenstraße in Richtung Torquay und war für die Maschinen der Gärtner und Steinmetze besser zugänglich. Aber noch waren die Gräber hier oben nicht gänzlich vergessen. Zumindest nicht alle. «Gute Tante Rose», murmelte Adrian und legte ein paar Lilien neben ihre Rosen, die er im Vorbeigehen gepflückt hatte. Lange hockte er so da.
    Dann war die stumme Zwiesprache vorüber. Adrian ging, wie es seine Gewohnheit war, einmal die Runde durch den stillen Garten, der so verzaubert dalag, dann setzte er sich auf die Umfassungsmauer und ließ die Beine baumeln. Ja, von hier oben gefiel ihm das Meer. Dieses Meer, das in einer einzigen Nacht seine ganze Familie verschluckt hatte und trotzdem so schön sein konnte.
    Er kramte in seiner Einkaufstüte und fand einen Schokoriegel. Kauend genoss er den frischen Wind und die Sonne, die jetzt sogar seine Schultern wärmte. Eine Möwe drehte ihre Kreise über seinem Kopf. Adrian lächelte, als sie sich nicht weit von ihm niederließ und ihre Flügel einfaltete. Wie weiß ihr Gefieder war. Einige Wasserperlen standen darauf, als wären sie aus Glas.
    Adrian knüllte das Stanniolpapier des Riegels zusammen und wunderte sich, als das Geräusch den Vogel nicht in die Flucht trieb. «Na du», sagte er zu dem Tier, das den Kopf schief legte und ihn aus schwarzen Knopfaugen musterte. «Schüchtern bist du ja nicht.»
    Die Möwe hüpfte ein wenig näher.
    «He, he», neckte Adrian sie. Vorsichtig streckte er die Hand mit dem letzten Krümel Schokolade aus. «Du stehst doch wohl nicht auf Süßes, oder? Hast du den ewigen Fisch satt?» Die Möwe ruckte mit dem Kopf, als dächte sie darüber nach.
    «Also echt …», begann Adrian und lachte. Da klingelte sein Handy.
    Sofort zitterten seine Finger so sehr, dass er es kaum schaffte, das kleine Ding aus seiner Tasche zu fischen. Ein Blick auf das Display genügte: Es war London, endlich! Die Uni. Der Professor rief an. Entweder
nahm
er Adrian als Assistenten für das Projekt. Oder nicht. Top oder Flop. Die Entscheidungsfrist war gestern abgelaufen. Adrian schluckte und zögerte einen Moment.
    Im vierten Semester, und schon an einem der größten architektonischen Unternehmen der Gegenwart beteiligt, das wäre es. Alle waren darauf scharf gewesen, selbst Dozenten mit Doktortitel und allem. Aber Professor Billings hatte ausdrücklich ihn angesprochen und ihn ermuntert, sich zu bewerben, ihn, Adrian. Weil ihm seine Entwürfe in dem Seminar so gut gefallen hatten. Es war der Wahnsinn! Das hier war eine ganz andere Nummer als Anbauten an Reihenhäuser oder Kleinstadtbrunnen, eine richtig große Sache war das. Okay, die Emirate waren weit weg, aber die Scheichs, man konnte über sie denken, was man wollte, hatten Geld. Und sie schätzten Fantasie. Er dürfte eigene Ideen haben. Es würde in den Zeitschriften stehen. Er würde berühmt werden. Da würde Maud aber Augen machen, wenn sie merkte, dass ein Stararchitekt ihr die Zimmer gestrichen hatte. Ganz anders würde er dann dastehen. Wenn er genommen wurde. Wenn. Adrian betete. Wenn doch bloß … Nun, jedenfalls nicht, wenn er jetzt nicht ranginge.
    Adrian schaute noch einmal zum Grab seiner Eltern. Das Handy dudelte wieder. «Bring mich nach Dubai», flüsterte er. Er bewegte den Zeigefinger.
    Da breitete die Möwe die Flügel aus. Mit zwei, drei kraftvollen, erstaunlich lauten Flügelschlägen war sie bei
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