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Medicus 02 - Der Schamane

Titel: Medicus 02 - Der Schamane
Autoren: Noah Gordon
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Laterne aus und ging über den dunklen Hof zur Küche, wo, nachdem alle anderen gegangen waren, seine Mutter auf ihn wartete.
     

Das Vermächtnis
    Am nächsten Morgen hatte Shaman Kopfschmerzen, obwohl der Pegel der goldbraunen Flüssigkeit in Aldens Flasche nur um wenige Zentimeter gesunken war. Er hatte schlecht geschlafen; die alte Seilmatratze war seit Jahren nicht nachgespannt, geschweige denn neu geknüpft worden. Beim Rasieren schnitt er sich ins Kinn. Doch im Verlauf des Vormittags wurde das alles unwichtig. Sein Vater war schon beerdigt worden, da er an Typhus gestorben war, aber mit dem Gottesdienst hatte man bis zu Shamans Rückkehr gewartet. In der kleinen First Baptist Church drängten sich zwei Generationen von Patienten, die von seinem Vater entbunden oder behandelt worden waren, sei es wegen ihrer Krankheiten, einer Schrotkugel oder Stichwunde, Hautausschlägen, Knochenbrüchen und wer weiß welchen anderen Beschwerden. Reverend Sydney Blackmer hielt seinen Nachruf herzlich genug, um unter den Versammelten keine Verärgerung aufkommen zu lassen, aber doch nicht so herzlich, dass man auf den Gedanken kommen konnte, es sei in Ordnung, so zu sterben, wie Dr. Robert Judson Cole es getan hatte: ohne der allselig machenden Kirche beigetreten zu sein. Shamans Mutter hatte mehrmals dankbar erwähnt, dass Mr. Blackmer es aus Hochachtung für sie gestattet hatte, ihren Gatten in der geweihten Erde des Kirchhofs zu begraben. Den ganzen Nachmittag war das Haus der Coles voller Leute, von denen die meisten Platten mit Braten, Farcen, Puddings und Pasteten mitbrachten, und zwar in solchen Mengen, dass aus dem traurigen Anlass beinahe ein Fest wurde. Sogar Shaman ließ sich zu einigen Scheiben vom kalten, gebratenen Herz verführen, seinem Lieblingsfleisch. Makwa-ikwa hatte ihn auf den Geschmack gebracht; er hatte es damals für eine indianische Delikatesse gehalten wie gekochten Hund oder samt Innereien geschmortes Eichhörnchen und war froh gewesen, als er entdeckte, dass auch viele der weißen Nachbarn das Herz geschlachteter Kühe oder erlegten Wildes brieten. Er nahm sich gerade eine weitere Scheibe, als er Lillian Geiger entdeckte, die quer durchs Zimmer zielstrebig auf seine Mutter zuging. Sie sah inzwischen älter aus und etwas erschöpft, doch sie war noch immer attraktiv. Von ihr hatte Rachel das gute Aussehen geerbt. Lillian trug ihr bestes schwarzes Satinkleid, dazu einen schwarzen Leinenüberwurf und ein gefaltetes weißes Umhängetuch. Der kleine silberne Davidstern baumelte an einer Kette vor ihrem hübschen Busen. Shaman fiel auf, dass sie genau darauf achtete, wem sie zunickte, denn es gab Leute, die, wenn auch widerwillig, eine Jüdin höflich grüßten, jedoch nie eine Copperhead, eine Sympathisantin der Südstaaten. Lillian war die Cousine von Judah Benjamin, dem Bundesstaatssekretär der Konföderierten, und ihr Gatte Jay war zu Beginn des Krieges in seine Heimat South Carolina zurückgekehrt, um sich dort mit zweien seiner drei Brüder der Konföderiertenarmee anzuschließen.
    Als Lillian schließlich vor Shaman stand, wirkte ihr Lächeln gezwungen. »Tante Lillian!« sagte er. Sie war gar nicht seine Tante, aber in seiner Kindheit waren die Geigers und die Coles wie enge Verwandte gewesen, und er hatte sie nie anders genannt. Ihr Blick wurde sanfter. »Hallo, Rob J.!« sagte sie im vertrauten zärtlichen Ton. Niemand sonst nannte ihn so - es war eigentlich der Name seines Vaters -, aber Lillian hatte ihn fast nie Shaman genannt. Sie küsste ihn auf die Wange, verzichtete aber darauf, ihm ihr Beileid auszudrücken. Nach dem, was sie gehört habe, sagte sie, und das sei wenig, da die Briefe die Fronten passieren müssten, befinde sich ihr Gatte wohlauf und außer Gefahr. Als Apotheker habe man ihn bei seinem Eintritt in die Armee zum Verwalter eines kleinen Armeelazaretts in Georgia gemacht, und inzwischen sei er Kommandant eines größeren Lazaretts am Ufer des James River in Virginia. Sein letzter Brief, erzählte sie weiter, habe die traurige Nachricht enthalten, dass sein Bruder, Joseph Reuben Geiger, ein Apotheker wie alle anderen männlichen Familienmitglieder, der sich zur Kavallerie gemeldet hatte, in der Schlacht gefallen sei.
    Shaman nickte, und auch er vermied es, Beileid auszusprechen, wie es inzwischen als selbstverständlich galt. Und wie ging es den Kindern?
    »Könnt’ nicht besser sein. Die Jungen sind so gewachsen, dass Jay sie nicht wiedererkennen würde. Sie essen wie die
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