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Medicus 02 - Der Schamane

Titel: Medicus 02 - Der Schamane
Autoren: Noah Gordon
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sich verkrampften, denn mit seiner Jugend kam er schwerer zurecht als mit seiner Taubheit.
    »Ich hin alt genug. Hab’ in einem Krankenhaus in Ohio gearbeitet. Mr. Fletcher... mein Vater ist am Donnerstag gestorben.« Fletchers Lächeln verschwand so langsam und vollständig, dass kein Zweifel an der Aufrichtigkeit seiner Trauer blieb. »Ach. Wir verlieren doch immer die Besten, nicht? Im Krieg?«
    »Er war schon wieder zu Hause. Im Telegramm stand Typhus.«
    Der Schaffner schüttelte den Kopf. »Sagen Sie doch, bitte Ihrer Mutter, dass sie eine ganze Menge Leute in ihre Gebete einschließen werden.« Shaman dankte ihm und erwiderte, das werde sie sehr freuen. »Kommen eigentlich an einer der nächsten Haltestellen noch Imbissverkäufer in den Zug?« fragte er dann. »Nein. Hier bringt jeder seine Verpflegung mit.« Der Eisenbahner sah ihn besorgt an. »Kaufen können Sie sich erst etwas, wenn Sie in Kankakee umsteigen. Mein Gott, hat man Ihnen das denn nicht gesagt, als Sie die Fahrkarte gekauft haben?«
    »Doch, doch. Ich brauche ja nichts. Es hat mich nur interessiert.« Der Schaffner tippte mit dem Finger an sein Mützenschild und ging. Fast im gleichen Augenblick stand die Frau auf der anderen Seite des Mittelganges auf, um sich nach einem umfänglichen Eichenspankorb auf der Gepäckablage zu strecken und dabei von der Brust bis zu den Schenkeln wohlgeformte Kurven zu präsentieren. Shaman ging hinüber und hob den Korb für sie herunter.
    Sie lächelte ihn an. »Sie müssen von mir etwas nehmen«, sagte sie. »Wie Sie sehen, habe ich genug für eine ganze Armee.« Er wollte ablehnen, musste aber zugeben, dass ihre Vorräte wirklich für eine Kompanie reichten. Bald darauf aß er Brathuhn, Gerstenmehlkuchen mit Kürbis und Kartoffelpie. Mr. Fletcher, der mit einem zerdrückten Schinkenbrot zurückkehrte, das er von einem Fahrgast für Shaman erbettelt hatte, grinste und erklärte, Dr. Cole sei im Proviantrequirieren besser als die Potomac-Army. Dann ging er schnell wieder, offensichtlich um das Brot selber zu essen.
    Shaman aß mehr, als er redete, und der Appetit angesichts seiner Trauer wunderte und beschämte ihn. Sie redete mehr, als sie aß. Ihr Name war Martha McDonald. Ihr Gatte Lyman war in Rock Island Vertreter für die American Farm Implements Co. Sie drückte ihre Anteilnahme an Shamans Verlust aus. Während sie ihm das Essen reichte, berührten sich ihre Knie, eine angenehme Vertraulichkeit. Er hatte schon sehr früh festgestellt, dass viele Frauen von seiner Taubheit abgestoßen, viele aber auch von ihr erregt wurden. Vielleicht hing letzteres mit dem verlängerten Augenkontakt zusammen, denn während sie sprachen, schaute er ihnen ins Gesicht- eine reine Notwendigkeit, da er von ihren Lippen ablesen musste, was sie sagten. Er machte sich keine Illusionen über sein Aussehen. Auch wenn man ihn nicht gerade schön nennen konnte, war er doch groß, ohne tolpatschig zu wirken, er verströmte die Energie junger Männlichkeit und ausgezeichneter Gesundheit, und seine ebenmäßigen Gesichtszüge und die klaren blauen Augen, die er von seinem Vater geerbt hatte, ließen ihn zumindest anziehend erscheinen. Aber all das war im Zusammenhang mit Mrs. McDonald bedeutungslos. Er hatte es sich zur Regel gemacht, sich nie mit einer verheirateten Frau einzulassen, und diese Regel war so unumstößlich wie das Händewaschen vor und nach einer Operation. Deshalb dankte er Mrs. McDonald für das gute Essen und ging, sobald der Rückzug nicht mehr verletzend wirken konnte, zu seinem Platz zurück. Den Großteil des Nachmittags verbrachte er über seinem Buch. Louisa Alcott berichtete von Operationen, die ohne schmerzbetäubende Mittel durchgeführt wurden, und von Männern, die an infizierten Wunden starben, weil die Lazarette nach Dreck und Verwesung stanken. Tod und Leid hatten ihn schon immer traurig gestimmt, überflüssiger Schmerz und unnötiges Sterben aber machten ihn wütend. Am Spätnachmittag kam Mr. Fletcher noch einmal vorbei und verkündete, der Zug bewege sich mit einer Geschwindigkeit von fünfundvierzig Meilen pro Stunde vorwärts, dreimal so schnell wie ein Pferd, und das ohne zu ermüden. Genauso hatte ein Telegramm Shaman, schon am Morgen nachdem es geschehen war, vom Tod des Vaters unterrichtet. Er überlegte sich verwundert, dass die Welt in eine Ära schneller Transportmittel und noch schnellerer Kommunikation trieb, in eine Ära neuer Krankenhäuser und Behandlungsmethoden, einer Chirurgie ohne
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