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Medicus 02 - Der Schamane

Titel: Medicus 02 - Der Schamane
Autoren: Noah Gordon
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denken, welche Qualen sein Bruder Bigger durchleiden mochte, der als Kundschafter der Konföderierten vermisst war, wenn er nicht sogar schon zu den namenlosen Gefallenen gehörte. Diese Gedanken führten ihn auf dem Pfad tränenloser Trauer zurück zu seinem Vater, und er sah sich verzweifelt um.
    Weiter vorne im Waggon fing ein magerer kleiner Junge an, sich zu übergeben, und seine Mutter, die bleich zwischen Gepäckstapeln und drei weiteren Kleinkindern saß, hielt hastig seinen Kopf, damit er nicht ihre Habseligkeiten bekleckerte. Als Shaman bei ihr war, hatte sie bereits begonnen, den Unrat aufzuwischen. »Kann ich ihm vielleicht helfen? Ich bin Arzt.«
    »Wir haben kein Geld, um zu bezahlen.«
    Er tat den Einwand mit einer Handbewegung ab. Der Junge schwitzte nach dem krampfartigen Erbrechen, doch seine Haut fühlte sich kühl an. Seine Drüsen waren nicht geschwollen, und die Augen wirkten einigermaßen klar.
    Sie sei Mrs.Jonathan Sperber, sagte die Frau auf seine Fragen, aus Lima in Ohio und auf dem Weg zu ihrem Gatten, der zusammen mit anderen Quäkern in Springdale, fünfzig Meilen westlich von Davenport, eine Siedlung errichte. Der kleine Patient hieß Lester und war acht Jahre alt. Er sah zwar noch blass aus, doch die Farbe kehrte bereits in sein Gesicht zurück. Er schien also nicht ernstlich krank zu sein. »Was hat er gegessen?« Aus einem schmierigen Mehlsack zog sie widerstrebend eine hausgemachte Wurst. Sie war grün, und Shamans Nase bestätigte, was seine Augen ihm sagten. Mein Gott! »Iih... Haben Sie die allen gegeben?« Sie nickte, und Shaman sah die Kleinen angesichts ihrer Verdauung mit Bewunderung an.
    »Die dürfen Sie ihnen nicht mehr geben! Die ist ja total verdorben.« Ihr Mund wurde ein schmaler Strich. »So verdorben kann sie nun auch wieder nicht sein. Sie ist gut gepökelt, wir haben schon Schlimmeres gegessen. Wenn sie wirklich so schlecht ist, müssten die anderen ebenfalls krank sein und ich auch.«
    Er kannte genug Siedler der verschiedensten Bekenntnisse, um zu wissen, was sie damit meinte: Die Wurst ist alles, was wir haben, entweder essen wir die verdorbene Wurst oder gar nichts. Er nickte und ging zu seinem Platz zurück. Sein Proviant steckte in einer aus Seiten des »Cincinnati Commercial« gedrehten Tüte: drei dicke Doppelscheiben dunkles Brot nach deutscher Art mit magerem Rindfleisch dazwischen, ein Erdbeertörtchen und zwei Äpfel, mit denen er kurz jonglierte, um die Kinder zum Lachen zu bringen. Als er Mrs. Sperber das Essen anbot, öffnete sie den Mund, als wolle sie protestieren, schloss ihn aber schnell wieder. Die Frau eines Siedlers braucht eine vernünftige Portion Realismus.
    »Wir sind Ihnen sehr verbunden, mein Freund«, sagte sie. Die blonde Frau auf der anderen Seite des Gangs sah wieder zu ihm herüber, doch Shaman versuchte sich erneut auf das Buch zu konzentrieren, da kam der Schaffner zurück. »Sagen Sie mal, ich kenn’ Sie doch, ist mir grade erst gekommen. Doc Coles Sohn aus Holden’s Crossing, oder?«
    »Ja.« Shaman wusste, dass er aufgrund seiner Taubheit erkannt worden war.
    »An mich erinnern Sie sich wohl nicht mehr? Frank Fletcher? Hab’ draußen an der Hooppole Road Mais angebaut. Ihr Daddy hat sich über sechs Jahre lang um uns sieben gekümmert, bis ich dann verkauft habe und zur Eisenbahn gegangen bin. Wir sind nach East Moline gezogen. Ich weiß noch, wie Sie als Knirps manchmal mitgekommen sind. Hinten auf dem Pferd haben Sie sich festgeklammert, als war’s ums Leben gegangen.« Hausbesuche waren für seinen Vater die einzige Möglichkeit gewesen, mit seinen Söhnen zusammenzusein, und den Jungen hatte es sehr gefallen, ihn bei diesen Ausritten zu begleiten. »Jetzt erinnere ich mich an Sie«, sagte er zu Fletcher, »und an Ihre Farm. Ein weißgestrichenes Holzhaus, daneben der rote Stall mit Blechdach und die alte Torfhütte, die Sie als Lagerraum benutzt haben.«
    »Ja, genauso war’s. Manchmal sind Sie mitgekommen, manchmal Ihr Bruder - wie heißt er gleich wieder?« »Sie meinen Bigger, meinen Bruder Alex.«
    »Ja. Wo steckt der jetzt?«
    »Beim Militär.« Er sagte nicht, in welcher Armee.
    »Natürlich. Und Sie werden wohl Pfarrer?« fragte der Schaffner mit einem Blick auf den schwarzen Anzug, der vierundzwanzig Stunden zuvor noch auf einem Verkaufsständer bei Seligman’s in Cincinnati gehangen hatte. »Nein, ich bin auch Arzt.«
    »Mein Gott. Sie sind doch noch gar nicht alt genug.« Shaman spürte, dass seine Lippen
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