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Medea. Stimmen

Medea. Stimmen

Titel: Medea. Stimmen
Autoren: Christa Wolf
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die die Königin gestarrt hatte, ertastete mit widerstrebenden Fingern die tiefe Einbuchtung im Stein und fand, wovor ich mich gefürchtet hatte, stieß einen Schrei aus, der in dem Höhlensystem widerhallte. Dann kehrte ich um. Ich hatte erfahren, was ich wissen wollte, versprach mir, es so schnell wie möglich zu vergessen, und kann seitdem an nichts anderes denken als an diesen schmalen kindlichen Totenschädel, diese feinknochigen Schulterblätter, diese zerbrechliche Wirbelsäule, ach.
    Die Stadt ist auf eine Untat gegründet.
    Wer dieses Geheimnis preisgibt, ist verloren. Den Schock habe ich zur Umkehr gebraucht. Weg von den spöttisch herabgezogenen Mundwinkeln an der Königstafel, das ist klar. Aber wohin. Da wüßtest auch du mirkeinen Rat, Mutter, da kann ich meine Handlinien befragen, wie ich will, klare Linien, nun gut, aber was heißt das, heute und hier. Die Krankheit, wie sie mich auch durchschüttelt, will mir eine Atempause verschaffen, ich kenne den geheimen Sinn der Krankheiten, doch weiß ich ihn bei anderen besser zur Heilung zu nutzen als bei mir selbst. Halb willentlich überlasse ich mich dem Fieber, das steigt und mich auf einer heißen Woge wegspült, das mir Bilder zuträgt, Fetzen von Bildern, Gesichter.
    Jason. Habe ich mich ihm verraten? Nein. Obwohl es einen Augenblick gab, einen flüchtigen, verführerischen Augenblick, aber ich schwieg. Doch, ja, ich schwieg. Jason wartete ja auf mich, das hatte ich nicht einberechnet, immer noch kenne ich ihn nicht ganz, habe versäumt, ihn ganz zu kennen, weil es mir nicht mehr wichtig war, gefährliche Bequemlichkeit. Anstatt alles daranzusetzen, jede seiner Regungen vorauszusehen, leistete ich mir den Luxus der Gleichgültigkeit, sonst hätte ich wissen können, daß jene Mischung aus Triumph und Demütigung, die er an der Festtafel des Königs erfahren hatte, seine Begierde so steigern mußte, daß nur ich sie stillen kann, keines der Mädchen im Palast, die ihm gerne zu Willen sind.
    Erschöpft, schmutzig schleppte ich mich nach Hause, zu dem Lehmhäuschen, das mit dem Rücken an der Palastmauer klebt wie ein Vogelnest und von dem Feigenbaum überwölbt wird, in dessen lichtes Laub ich von meinem Lager aus sehe. Lyssas Blick warnte mich, ihre Lippenbewegung deutete mir an, wer hinter dem Türvorhang im Nebenraum auf mich wartete, Hände und Gesicht konnte ich mir rasch noch abspülen, einsauberes Hemd statt des verdreckten zerrissenen Kleides überwerfen, ehe Jason nach mir rief. Mit nichts täuschen wir die Menschen mehr, als wenn wir unser gewöhnliches Verhalten an den Tag legen, also mußte ich Jasons Zeug, das er wie immer einfach hatte fallen lassen, wie immer beiseite schieben und meinen Fuß dabei unter dem langen, losen Hemd hervorstrecken, mit jener anmutigen Bewegung, die sich bewußt ist, daß Jason die Füße der Frauen mag, aber keine habe so schöne Füße wie ich, das sagte er wieder, und ich wollte Zeit gewinnen und fragte ihn, ob er sich erinnere, wann er meine Füße zum erstenmal in seine Hände genommen habe, und er, selbstgewiß, erwiderte: Dumme Frage. Komm. So spricht der Mann jetzt mit mir, es macht mir nichts mehr aus, daß er mich mit seinen anderen Frauen verwechselt. Ich sagte, zuerst solle er mir antworten. Bestimmte Dinge vergißt ein Mann doch nicht, sagte er und gab mir ein Beispiel seiner Fähigkeit zu vergessen.
    In Kolchis sei es gewesen, an jenem Palisadenzaun hätten wir gesessen, der den inneren Palasthof gegen den äußeren abgrenzt, Nacht sei es gewesen,Vollmond, daran erinnere er sich genau. Du trugst ein Hemd wie dieses, sagte er, ich hatte eine so feine Weberei noch nie gesehen, hinter dem Zaun sangen die Wachen eure schrecklichen Gesänge, die einem aufs Gemüt schlagen. Jetzt erinnerte auch ich mich, auch mir griffen die langgezogenen schwermütigen Lieder unserer jungen Soldaten ans Herz, nicht aus dem gleichen Grund wie ihm. Du hast mir versprochen, sagte Jason, mir zu diesem verdammten Vließ zu verhelfen, das Sinn und Zweck unserer langen Reise war, und ich, nun ja, da du eswissen willst, ich nahm deinen Fuß in meine Hände. Komm jetzt.
    Ich staunte, auch über mich. Er kann mir immer noch weh tun, Mutter, das muß aufhören. Dabei hätte mir klar sein müssen, daß auch er sich nur einen einzigen Grund dafür denken konnte, daß ich ihm gegen den eigenen Vater half: Ich mußte ihm, Jason, unrettbar verfallen sein. So sehen sie es alle, die Korinther sowieso; für die erklärt und entschuldigt
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