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Medea. Stimmen

Medea. Stimmen

Titel: Medea. Stimmen
Autoren: Christa Wolf
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nicht nur meinetwegen, das hat Lyssa mir oft versichert, als meine Kolcher, enttäuscht von den Ländern, in die ich sie, selbst getrieben, geführt hatte, anfingen, mir die Schuld am Verlust der Heimat zu geben, die ihnen nachträglich in ungetrübtem Glanz erstrahlt. Wie ich sie verstehe. Wie wütend ich oft auf sie bin.
    Schon über die Umstände unserer Abfahrt aus Kolchis kamen bald unterschiedliche, sogar gegensätzliche Geschichten in Umlauf. Sicher ist, daß ich an Lyssas Lager trat, sie wachrüttelte: Komm, Lyssa, kommst du?, daß Lyssa aufstand, nach dem Bündel griff, das fertig geschnürt war, und mit mir aus dem Palast undhinunter zum Ufer schlich, wo bei ruhiger See, in fast vollständiger Finsternis, die »Argo« und die beiden anderen Schiffe lagen, die zur kolchischen Flotte gehörten, die Fluchtschiffe, zu denen die Frauen und Kinder, die mit uns kamen, durch das flache Wasser von den Männern getragen wurden. Schon auf der Überfahrt fingen einige der Männer an, die Höhe des Wassers zu übertreiben, überhaupt von einer höchst gefährlichen Abfahrt zu reden, von Dünung und unruhiger See, von ihrer Besonnenheit und ihrer Kühnheit, denen es zu verdanken war, daß alle Frauen und Kinder heil an Bord gekommen seien. Ihre Legenden werden ausufern, wenn unsere Lage sich weiter verschlechtert, und es wird nichts nützen, ihnen die Tatsachen entgegenzuhalten. Falls es noch etwas wie Tatsachen gibt, nach all den Jahren. Falls sie nicht, ausgehöhlt durch Heimweh und Demütigung und Enttäuschung und Armut, zu einer dünnen brüchigen Schale geworden sind, die von jedem, der es wirklich will, zerstört werden kann. Wer wird das wollen. Presbon?
    Presbon in seiner unbezähmbaren Ichsucht, das könnte sein. Er war der einzige der Auswanderer, den nicht Lyssa selbst verständigt hatte, sie wirft es sich heute noch vor, daß sie das geduldet hat. Er ergriff die Gelegenheit, Kolchis den Rücken zu kehren und sein überschießendes Talent, sich selbst darzustellen, anderswo anzubieten, zum Beispiel hier im glänzenden Korinth, wo er sich unentbehrlich gemacht hat bei den großen Tempelspielen, deren kompliziertes Triebwerk er in Gang zu setzen weiß wie kein anderer und denen er durch die inspirierte Darstellung der großen Rollen Glanzlichter aufsetzt, die König Kreon ihm dankt.Keiner von den Kolchern hat es zu so hohen Ehren gebracht wie er, Presbon, Sohn einer Magd und eines Offiziers der Palastwache in Kolchis, der sich zuerst nicht zu schade war, hier in Korinth nach den großen Festen den Abfall von der Festwiese zu räumen. Wie er sich anstrengen mußte, daß man auf ihn aufmerksam wurde. Wie er unter der Erniedrigung litt. Wie er alle haßt, die ihn in seiner Schande gesehen haben und über die Verrenkungen spotteten, die er sich abverlangte, um aufzusteigen. Wie er mich haßt, weil ich seinen Wert nicht zu schätzen wußte. Nichts bleibt ohne Folgen, Mutter, darin hattest du recht.
    War es Lyssa, die dir den Zeitpunkt unserer Flucht nannte? Wahrscheinlicher ist, du hast ihn selbst erraten. Aufmerksamer als du hat niemand die Ereignisse beobachtet, die das Auftauchen jener Fremden in Kolchis nach sich zog.
    Dabei ließ sich alles ganz gut an. Unsympathisch waren sie unseren Kolchern nicht, Jason mit dem Pantherfell und seine etwas verwilderte Schar von Argonauten, die ja nicht roh waren, eher ein wenig täppisch, aber hilfsbereit, wenn es sich ergab, und neugierig. Und schmeichelhaft war es doch eigentlich, daß das Ziel ihrer gefahrvollen Meeresfahrt ausgerechnet unser Kolchis war, ein Land wie andere auch an dieser Schwarzmeerküste. Jedenfalls gab es keinen Grund, diese Seeleute, die in der Bucht unseres Flusses Phasis angelegt hatten, nicht gebührend als Gäste zu behandeln. Noch dazu, da Aietes, der König, der Vater, Jason und Telamon gleich nach ihrer Ankunft empfing und alle fünfzig Argonauten für den nächsten Abend in den Palast lud, zu einem Gastmahl, für das eine Menge Schafeihr Leben lassen mußte und das in Ausgelassenheit und Verbrüderung endete.
    Natürlich wollten später viele schon damals Unheil gewittert haben, aber was hätte unheimlich sein sollen an einem Festgelage, dessen Lärm zusammen mit dem Klang der Widderhörner aus dem Palast drang, denn der Wein, den wir an den Südhängen der Berge ziehen, schmeckte den Gästen.
    Nein. Ich war als einzige voller böser Ahnungen, denn ich war in meines Vaters Argwohn gegenüber diesen Gästen eingeweiht. Die einzige außer dir,
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