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Medea. Stimmen

Medea. Stimmen

Titel: Medea. Stimmen
Autoren: Christa Wolf
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Mutter. Du brauchtest für deine bösen Ahnungen keinen neuen Grund. Du kanntest den König. Ich hatte es mit dem Vater in mir zu tun: Du verrätst mich nicht, meine Tochter. Ich wußte, Jason wollte das Vließ. Ich wußte, der König wollte es ihm nicht geben. Warum nicht, das fragte ich nicht. Ich müsse ihm helfen, diesen Mann unschädlich zu machen, um jeden Preis. Ich sah, wie hoch er den Preis ansetzte, zu hoch für uns alle. Mir blieb nichts übrig als Verrat.
    Blieb mir nichts übrig? Wie doch die Jahre die Gründe auswaschen, derer ich mir so sicher war. Wie ich immer wieder die Abfolge der Ereignisse aufrief, die ich in meinem Gedächtnis befestigt habe als Schutzwall gegen die Zweifel, die jetzt, so spät, diesen Wall überschwemmen. Ein Wort hat ihnen die Bresche geschlagen: Vergeblichkeit. Seit ich die Knöchelchen dieses Kindes betastet habe, erinnern sich meine Hände an jene anderen Knöchelchen, die ich dem König, der uns verfolgte, von meinem Fluchtschiff aus zugeworfen habe, laut heulend, das weiß ich noch. Da ließ er von uns ab. Seitdem fürchteten mich die Argonauten. AuchJason, den ich mit anderen Augen sah, seit ich ihn als Schiffsführer kennenlernte. Er war wie ein Blinder durch Kolchis gelaufen, hatte nichts verstanden, sich ganz in meine Hände gegeben, aber als er, das Vließ um die Schultern gelegt, sein Schiff betrat, wurde er ein anderer. Alles Täppische fiel von ihm ab, er straffte sich, seine Sorge um das Schicksal seiner Mannschaft hatte nichts Unmännliches, sein umsichtiges Verhalten bei der Einschiffung der Kolcher machte mir Eindruck. Da hörte ich zum erstenmal das Wort Flüchtlinge. Für die Argonauten waren wir Flüchtlinge, es gab mir einen Stich. Manche Empfindlichkeiten habe ich mir dann abgewöhnt.
    Aber darum geht es jetzt nicht. Ich glaube, es ist meine Schwäche, Mutter, es ist die Augenblicksschwäche, daß ich diesen Gedanken heute ausgeliefert bin. Als du am Ufer standest, um mich zu verabschieden, gabst du mir zu verstehen, du billigtest, was ich tat. Ich hatte keine Wahl. Zu reden war nicht viel. Werde nicht wie ich, sagtest du, dann zogst du mich an dich mit einer Kraft, die ich lange nicht mehr bei dir gespürt hatte, wendetest dich ab und gingst die Uferböschung hinauf in Richtung auf den Palast, in dem der König und seine Dienstmänner tief und fest schliefen, nach dem Abschiedstrunk, den ich ihnen gemischt hatte und mit dem sie dem scheidenden Jason Bescheid getrunken hatten. Der mußte wach und nüchtern bleiben, um den Weg zum Hain des Ares wiederzufinden, den ich ihm bei Tage gezeigt hatte, um sich vorbeizuschleichen an den Wächtern, die, dafür hatte ich gesorgt, ebenfalls schliefen, und um endlich mit meiner Hilfe jene Tat zu vollbringen, deretwegen er nach Kolchis, an denöstlichen Rand seiner Welt, gekommen war: von der Eiche des Kriegsgottes das Widderfell herunterzuholen, das sein Onkel Phrixos vor vielen Jahren auf der Flucht hierhergebracht hatte und das nun von den Seinen zurückgefordert wurde. Eine Art Mutprobe, so sah ich es damals, nicht eingeweiht in die verzwickte Familiengeschichte des armen Jason. Was war mir dieses Vließ, das erst später, als sie es genauer betrachtet hatten, von den Männern auf der »Argo« »Goldenes Vließ« genannt wurde: Dieses Fell war, wie die Felle vieler Widder in Kolchis, zur Goldgewinnung benutzt worden, indem man es im Frühjahr in eines der zu Tal stürzenden Gebirgswässer gelegt hatte, damit es den Goldstaub auffinge, der aus dem Berginnern herausgeschwemmt wurde. Genauestens haben die Argonauten mich nach dieser Methode befragt, die mir ganz gewöhnlich vorkam, sie aber in helle Aufregung versetzte: In Kolchis gab es Gold. Wirkliches Gold. Warum ich ihnen nicht früher davon erzählt hätte. Um wie vieles ertragreicher hätte ihr Unternehmen werden können.
    Erst hier in Korinth habe ich sie verstanden. Korinth ist besessen von der Gier nach Gold. Kannst du dir vorstellen, Mutter, daß sie nicht nur Kultgerät und Schmuck, sondern gewöhnliche Gebrauchsgegenstände aus Gold herstellen, Teller, Schalen, Vasen, sogar Skulpturen, und daß man diese Gegenstände zu hohen Preisen rund um ihr Mittelmeer verkauft, selbst aber bereit ist, für unbearbeitetes Gold, für einfache Barren, Getreide, Rinder, Pferde, Waffen zu tauschen. Und was uns am meisten befremdete: Man mißt den Wert eines Bürgers von Korinth nach der Menge des Goldes, die er besitzt, und berechnet nach ihr die Abgaben, die erdem Palast
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