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Medea. Stimmen

Medea. Stimmen

Titel: Medea. Stimmen
Autoren: Christa Wolf
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daß sie kommen würde. Ich hatte doch gesehen, wie sie durch ihre Stadt ging, mit erhobenem Kopf. Wie die Leute sich um sie sammelten, sie grüßten. Wie sie mit ihnen sprach. Sie kannte jeden, eine Woge der Erwartung trug sie.
    Ich sah sie aus dem Brunnen trinken, der im Hof ihres Palastes stand, ein verblüffendes Wunderding übrigens. Wasser, Milch,Wein und Öl flossen aus seinen vier Röhren, die genau nach den Himmelsrichtungenausgerichtet waren. So sah ich sie zuerst: über den Brunnen gebeugt, Wasser mit den Händen schöpfend und es in vollen Zügen trinkend. Ich kam mit dem zottelköpfigen Telamon, der vielleicht nicht der klügste, aber einer der heitersten und ausgeglichensten von meinen Argonauten ist, und mir treu ergeben. Darum ist er ja hier in meiner Nähe hängengeblieben. Es war hoher Nachmittag, brütende Hitze, die uns, an kühlende Seewinde gewöhnt, zu schaffen machte, und wir seit Stunden erst in diesem Land, auf das wir seit so vielen Wochen all unser Sinnen und Trachten gerichtet hatten. Was hatte es uns gekostet, uns bis hierher, an den Rand der Welt, durchzuschlagen, so manchen Gefährten hatten wir verloren, wie oft war der Trieb umzukehren übermächtig geworden, und nur die Scham voreinander und vor denen, die uns hämisch zu Hause empfangen würden, hatte uns bei der Stange gehalten. Und dieses Wunderland Kolchis stand uns vor Augen, in dem, so kam es uns vor, unser Schicksal beschlossen war.
    Nun weiß man ja, daß auf äußerste Anspannung oft Erschlaffung folgt. So folgte bei uns nach dem Jubel, mit dem wir die endlich gefundene Einfahrt in ihren Fluß Phasis, die glückliche Landung in dieser natürlichen Bucht begleitet hatten, der Stimmungsumschwung. Das sollte das ersehnte Land sein. Der Fluß, die Ufer, das Gelände ringsum, eine mit lichtem Mischwald bestandene Hügellandschaft, kamen uns recht gewöhnlich vor, unterwegs hatten wir Eindrucksvolleres gesehen. Zwar hütete sich jeder, ein Wort darüber zu verlieren, doch las ich meinen Männern die Enttäuschung von den Augen ab. Dabei hatten, die auf der »Argo« zurückblieben, nicht wissen können, was uns bevorstand, als wir,Telamon und ich, loszogen, um den Palast des Königs Aietes zu suchen und diesem unbekannten König unsere Forderung zu unterbreiten.
    Mein Nachruhm war mir mit dem Augenblick sicher, da ich meinen Fuß als erster auf diese östlichste, fremdeste Küste gesetzt hatte, das stärkte mich. Wir, die wir in ein barbarisches Land vorstießen, waren barbarischer Sitten gewärtig und hatten uns durch die Anrufung unserer Götter innerlich gefestigt. Aber bis heute kann ich den Schauder spüren, der mich ergriff, als wir das niedrige Weidengestrüpp am Ufer durchquert hatten und in einen Hain regelmäßig gepflanzter Bäume gerieten, an denen die entsetzlichsten Früchte hingen. Beutel aus Rinder-, Schaf-, Ziegenfellen umhüllten einen Inhalt, der an schadhaften Stellen nach außen trat: Menschliches Gebein, menschliche Mumien waren da aufgehängt und schwangen im leichten Wind, ein Grauen für jeden gesitteten Menschen, der seine Toten unter der Erde oder in Felsengräbern verschlossen hält. Der Schrecken fuhr uns in die Glieder. Wir mußten weiter.
    Die Frau dann, die uns in dem weinumrankten Hof des Aietes entgegentrat, war das Gegenbild zu den schauerlichen Totenfrüchten, mag sein, das erhöhte den Eindruck, den sie auf uns machte. Wie sie da, in dem rotweißen Stufenrock, den sie alle tragen, dazu das anliegende schwarze Oberteil, heruntergebückt, mit zur Schale geformten Händen das Wasser aus dem Rohr auffing und trank. Wie sie, sich aufrichtend, uns bemerkte, die Hände ausschüttelte und unbefangen auf uns zukam, mit raschen, kräftigen Schritten, schlank, aber von ausgeprägter Figur, und so alle Vorzüge ihrer Erscheinung zur Geltung brachte, daß Telamon,unbeherrscht wie er ist, durch die Zähne pfiff und mir zuflüsterte: Das wär doch was für dich. Es war ihm nicht entgangen, daß ich für die Reize braunhäutiger dunkelhaariger Mädchen empfänglich bin. Aber dies hier, der arme Telamon war nicht imstande, es zu begreifen, war doch etwas anderes. Ein nie gekanntes Ziehen in allen meinen Gliedern, ein durch und durch zauberhaftes Gefühl, sie hat mich verzaubert, ist es mir durch die Sinne gegangen, und in der Tat, das hatte sie. Und das will sie weitertreiben, da hat Akamas recht. Daß ich mich hüten muß, immer wieder auf ihre Kunststücke hereinzufallen, denn natürlich wird sie mir über
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