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Medea. Stimmen

Medea. Stimmen

Titel: Medea. Stimmen
Autoren: Christa Wolf
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Unter allen Lebewesen ist sie diejenige, von der ich nicht einen Tag langgetrennt gewesen bin, sie, die am gleichen Tag Geborene, deren Mutter meine Amme war, sie, die die Amme meiner Kinder war. Sie, die alles mit angesehen, wahrscheinlich alles verstanden hat, oder war auch das eine Täuschung, wenn ich es für naturgegeben hielt, daß sie sich in jede meiner Regungen einfühlte, daß sie sie wahrnahm, oft vor mir selbst und auch dann, wenn ich sie vor mir verleugnen wollte. Lyssa, die ich manchmal neben mich auf mein Lager ziehe, um vertraut mit ihr zu sprechen, und die ich manchmal wegwünsche bis an den Rand der Welt. Aber der Rand der Welt ist Kolchis. Unser Kolchis an den Südhängen des wilden Kaukasus, dessen schroffe Berglinie in jede von uns eingeschrieben ist, wir wissen es voneinander, reden niemals darüber, Reden steigert das Heimweh ins nicht zu Ertragende. Aber das wußte ich doch, daß ich niemals aufhören würde, mich nach Kolchis zu sehnen, aber was heißt wissen, dieses nie nachlassende, immer nagende Weh läßt sich nicht vorauswissen, wir Kolcher lesen es uns gegenseitig von den Augen ab, wenn wir uns treffen, um unsere Lieder zu singen und den nachwachsenden Jungen unsere Götter- und Stammesgeschichten zu erzählen, die manche von ihnen nicht mehr hören wollen, weil ihnen daran liegt, für echte Korinther zu gelten. Auch ich vermeide es manchmal, zu diesen Treffen zu gehen, und immer öfter, scheint mir, laden sie mich nicht mehr dazu ein. Ach meine lieben Kolcher, auch sie verstehen es, mir weh zu tun. Und neuerdings versteht es auch Lyssa.
    Zwar war sie wach geblieben, wie immer, wenn ich sie noch brauchen konnte, doch anders als sonst verweigerte sie mir das komplizenhafte Lächeln. Darumbetteln würde ich nicht, ich tat, als merkte ich nichts, und begann mitten in der Nacht, sie und mich zu fragen, ob denn die Männer in Kolchis anders gewesen seien als die in Korinth, spröde ließ sie sich auf das Spiel ein, nach ihrer Erinnerung hätten die Männer in Kolchis ihren Gefühlen freien Lauf gelassen, sagte sie, ihr Vater zum Beispiel habe öffentlich und bitterlich geweint, als ihr Bruder verunglückt war, geheult und geschrien habe er, während man doch in Korinth bei einer Beerdigung keinen Mann weinen sehe. Das müßten die Frauen für die Männer mit erledigen. Dann schwieg sie. Ich wußte, woran sie dachte. Nie habe ich einen Mann wieder so weinen sehen wie jenen jungen Kolcher, der Lyssa liebte und dem sie zugetan war, den sie aber zurückließ, um mir auf die »Argo« und auf eine ungewisse Reise zu folgen. Arinna, ihre Tochter, hat sie unterwegs zur Welt gebracht, es gab danach keinen Mann in Lyssas Leben, und ich konnte nun nicht mehr umhin, mich nach dem Preis zu fragen, den Lyssa, den die anderen Kolcher, den wir alle dafür gezahlt haben, daß ich in Kolchis nicht mehr leben wollte und daß sie, geblendet durch den Ruf, den ich unter ihnen genoß, mir gefolgt sind. So muß ich es heute sehen.
    Jason? Ach Jason. Ich ließ sie bei ihrer Meinung, er sei der Mann, dem ich bis ans Ende der Welt folgen würde, und kann ihnen nicht verübeln, daß sie unsere Trennung als schwere persönliche Kränkung nehmen. Schlimmer: als Beweis der Vergeblichkeit unserer Flucht. Während ich, so dachte ich auf Lyssas Lager, diesen Beweis heute mit meinen Händen abgetastet hatte, ein kindliches Skelett, vor aller Welt verborgen in einer Höhle. Da legte Lyssa ihre Hand in meinen Nacken.Die Gesten gibt es noch, sie bedeuten nicht mehr dasselbe. Wir können uns begütigen. Gutmachen können wir nichts. Darauf ist es nicht angelegt, Mutter, ich beginne zu verstehen.
    Was wollte ich gutmachen, oder wiedergutmachen, als ich mir keinen anderen Rat mehr wußte, als mit Jason zu gehen. Als ich zuerst dir, Mutter, dann Lyssa anvertraute, was ich vorhatte, ihr beide mich stumm anhörtet, nach meinen Gründen nicht fragtet, Lyssa schließlich erklärte, sie käme mit mir. Jahre später erst habe ich von ihr wissen wollen, was in jenen Tagen und Nächten in Kolchis passierte, denn Lyssa ist es gewesen, die im geheimen jenen kleinen Trupp von Kolchern sammelte, der sich uns anschließen wollte. Sie durfte sich in keinem irren, auf jeden mußte Verlaß sein, ein unbedachtes oder verräterisches Wort über unseren Plan hätte zur Katastrophe geführt. Sie kannte unsere Landsleute genau, hatte sie lange beobachtet und wußte, wer die Verhältnisse ebenso unerträglich fand wie ich. Sie gingen nicht meinetwegen,
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