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Medea. Stimmen

Medea. Stimmen

Titel: Medea. Stimmen
Autoren: Christa Wolf
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Tafelende zogen alle Blicke auf uns, all die neidvollen und empörten Blicke der Hofgesellschaft und die flehenden des armen Jason, nun ja.
    Warum bin ich der Frau nachgegangen, der Königin, die ich, solange ich in dieser Stadt Korinth bin, kaum je zu Gesicht bekommen habe. Eingesponnen in ein dichtes Netz schauerlicher Gerüchte, zuverlässig verborgen hinter ihrer Unnahbarkeit, verbringt sie ihre Tage und Nächte im entlegensten, ältesten Teil des Palastes, in dickwandigen Kammern, die lichtarmen Höhlen gleichen sollen, eher eine Gefangene als eine Herrscherin, bedient und bewacht von zwei seltsam urtümlichen Weibern, die ihr aber auf ihre Weise treu ergeben sein sollen, ich glaube, sie kennt meinen Namen nicht, und ich hatte keinen Gedanken verschwendet an die unglückliche Königin eines Landes, das mir fremd geblieben ist und immer fremd bleiben wird. Wie mein Kopf mich schmerzt, Mutter, etwas in mir wehrt sich dagegen, noch einmal in diese Höhlen hinunterzusteigen, in die Unterwelt, in den Hades, wo gestorben und wiedergeboren wird seit alters her, wo aus dem Humus der Toten Lebendiges gebacken wird, zu den Müttern also, zur Todesgöttin, zurück. Aber was heißtda vorwärts, was zurück. Das Fieber steigt, ich mußte es tun. Ich habe diese Frau an Kreons Seite zum erstenmal gesehen, Mutter, mit jenem Zweiten Blick, den du an mir bemerkt hast. Ich wehrte mich bis zum äußersten, bei diesem jungen Priester in die Lehre zu gehen, lieber wurde ich krank. Jetzt erinnere ich mich, das war die Krankheit, während der du mir meine Handlinien zeigtest, der Priester hat später scheußliche Verbrechen begangen, er war nicht normal, da sagtest du, das Kind hat den Zweiten Blick. Er ist mir hier fast abhanden gekommen, manchmal denke ich, die krankhafte Furcht der Korinther vor dem, was sie meine Zauberkräfte nennen, hat mir diese Fähigkeit ausgetrieben.
    So erschrak ich, als ich die Königin Merope sah. Daß sie wortlos neben König Kreon saß, daß sie ihn zu hassen, er sie zu fürchten schien, das konnte jeder sehen, der Augen im Kopf hatte. Ich meine etwas anderes. Ich meine, daß es auf einmal ganz still wurde. Daß jenes Flimmern vor meinen Augen erschien, das dem Zweiten Gesicht vorausgeht. Daß ich in dem riesigen Saal mit dieser Frau allein war. Da sah ich sie, ihre Aura fast vollständig verdunkelt von unstillbarem Leid, so daß mich ein Entsetzen erfaßte und ich ihr nachgehen mußte, als sie, kaum war das Mahl beendet, aufstand und ohne ein erklärendes Wort, ohne einen Gruß wenigstens für die fremden Kaufleute und Gesandten, steif in ihrem golddurchwirkten Festkleid hinausging und den König zwang, ihre Ungehörigkeit zu überspielen durch schnelleres Reden, lauteres Lachen. Von Herzen gönnte ich ihm seine Niederlage. Er muß diese Frau gezwungen haben, all diesen neugierigen eitlen Leuten ihr zerstörtes Gesicht hinzuhalten, wie mich Jason dazugebracht hat, ihnen eine Komödie vorzuspielen. Jetzt war es genug. Wir gingen, beide aus dem gleichen Grund: Stolz. Das habe ich nie vergessen, daß du mir einmal gesagt hast, wenn sie mich umbringen würden, meinen Stolz müßten sie noch extra erschlagen. So ist es geblieben, und so soll es bleiben, und es wäre gut für meinen armen Jason, wenn er das rechtzeitig erkennen würde.
    Ich folgte der Frau. Der Gang, der zum Festsaal führt, wie oft bin ich ihn gegangen, als Jasons, des königlichen Neffen und Gastfreunds geachtete Frau, an seiner Seite, in Zeiten, die mir glücklich erschienen. Wie habe ich mich so täuschen können, aber nichts täuscht sicherer als Glück, und es gibt keinen Platz, der die Schärfe der Wahrnehmung so trübt wie der Platz im Gefolge des Königs. Merope war wie vom Erdboden verschluckt, es mußte einen Ausschlupf geben, ich suchte und fand ihn hinter Fellen versteckt, ich nahm eine der Fackeln aus ihrer Halterung und schlüpfte in den Gang, der bald so niedrig wurde, daß ich nur noch gebückt gehen konnte, oder habe ich das geträumt, das düstere Kellergewölbe, des Königs herrlicher lichter Palast als sein eigenes Gegenbild noch einmal in die Tiefe, ins Finstere gebaut. Die Steintreppen, Stockwerk um Stockwerk hinunter, das muß ich geträumt haben, aber die Kälte, die habe ich doch nicht geträumt, ich schlottere ja immer noch, und die Schärfe der Steine, die mir die Haut ritzten, woher sonst wären meine Arme so voller verschorfter Kratzer, und dann im letzten, tiefsten Grund, in jenem Keller, in dem sich sogar in
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