Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
McEwan Ian

McEwan Ian

Titel: McEwan Ian
Autoren: Abbitte
Vom Netzwerk:
zurückgehaltenen Samtvorhänge, die den Blick auf den wolkenlosen Himmel und die gelbgrau gesprenkelte Terrasse freigaben, in deren Fliesenritzen Kamille und Mutterkraut wuchsen. Einige Stufen führten zum Rasen hinab, der sich bis zum knapp fünfzig Meter entfernten Triton-Brunnen erstreckte und an dessen Einfassung Robbie immer noch arbeitete.
Daß sie gerannt war – was sie in letzter Zeit nur noch selten tat –, und den Fluß und die Blumen, die feine Maserung der Eichenstämme, die hohe Zimmerdecke, den geometrischen Lichteinfall, den Pulsschlag in den Ohren, der langsam der Stille wich: All dies genoß sie, weil es das Vertraute in etwas angenehm Fremdes verwandelte. Zugleich aber hatte sie ein schlechtes Gewissen wegen der Langeweile, die sie hier zu Hause plagte. Sie war mit der vagen Annahme aus Cambridge zurückgekehrt, ihrer Familie eine längere Zeit der Anwesenheit zu schulden. Doch ihr Vater blieb in der Stadt, und wenn ihre Mutter nicht gerade an einer Migräne laborierte, wirkte sie abwesend, sogar unfreundlich. Gelegentlich brachte Cecilia ihr den Tee auf das Zimmer – in dem ein ebenso sensationelles Durcheinander herrschte wie in ihrem – und hoffte, sich in aller Ruhe mit ihr unterhalten zu können, doch Emily Tallis wollte nur die kleinlichen Sorgen um den Haushalt mit ihr teilen. Oder sie trank ihre Tasse Tee in mattem Schweigen und ließ sich mit einer Miene, die im Dämmerlicht nicht zu entschlüsseln war, in die Kissen sinken. Briony aber verlor sich in Schreibphantasien – was zunächst nur eine Laune gewesen zu sein schien, hatte sich zu einer hartnäckigen Obsession entwickelt. Cecilia hatte ihre Schwester am Morgen auf der Treppe gesehen, wie sie die erst gestern eingetroffene Kusine und die beiden Vettern, diese armen Tröpfe, ins Kinderzimmer brachte, um dort das Stück mit ihnen einzuüben, das am Abend zur Ankunft von Leon und dessen Freund aufgeführt werden sollte. Es blieb nur wenig Zeit, und jetzt hielt Betty auch noch einen der Zwillinge wegen irgendeiner Lappalie in der Spülküche fest, aber Cecilia dachte nicht daran, helfend einzugreifen – dafür war es einfach zu heiß; außerdem würde das Unterfangen ohnehin in einer Katastrophe enden, weil Briony einfach zuviel erwartete und weil niemand, vor allem aber die Vettern nicht, ihren übertriebenen Ansprüchen genügen konnte. Cecilia wußte, daß sie ihre Tage nicht länger im Kuddelmuddel ihres unaufgeräumten Zimmers vertrödeln, nicht länger in Zigarettenqualm gehüllt auf dem Bett liegen konnte, das Kinn in die Hand gestützt, ein Kribbeln im eingeschlafenen Arm, um in Richardsons Clarissa zu schmökern. Sie hatte halbherzig angefangen, einen Stammbaum zu erstellen, doch blieben die Vorfahren väterlicherseits bis zu dem Tag, an dem ihr Urgroßvater seinen bescheidenen Eisenwarenladen eröffnete, im Morast ewiger Bauernarbeit versunken, wobei die Männer verdächtig oft die Namen gewechselt hatten, was Cecilia ziemlich verwirrte, und manche Gewohnheitsehe war gar nicht erst im Kirchenregister verzeichnet worden. Sie konnte nicht länger bleiben, sie wußte, sie sollte Pläne für ihre Zukunft schmieden, doch sie tat nichts dergleichen. Möglichkeiten boten sich durchaus, nur durfte sie sich mit allen Zeit lassen. Auf ihrem Konto war genug Geld angespart, um davon ein Jahr bescheiden leben zu können. Leon hatte sie immer wieder aufgefordert, mit ihm einige Zeit in London zu verbringen. Studienfreunde erboten sich, eine Stelle für sie zu finden – nichts Besonderes, sicher, aber sie wäre unabhängig. Mütterlicherseits besaß sie zudem interessante Onkel und Tanten, die sich stets freuten, wenn sie vorbeischaute, etwa die wilde Hermione, die Mutter von Lola und den Jungs, die in ebendiesem Augenblick mit einem Liebhaber, der beim Rundfunk arbeitete, in Paris weilte.
Niemand hielt Cecilia auf, niemanden kümmerte es sonderlich, ob sie ging oder blieb. Sie litt auch nicht an Apathie – manchmal war sie regelrecht wütend vor lauter Ruhelosigkeit –, doch hätte sie es gern gesehen, daß man sie von ihrer Abreise abhielte, daß sie gebraucht würde. Gelegentlich redete sie sich ein, sie bliebe Briony zuliebe oder um ihrer Mutter zu helfen oder weil sie nie wieder so lange daheim sein würde, weshalb sie bis zum Ende durchhalten wollte. Doch in Wahrheit fand sie die Aussicht, einen Koffer zu packen und den Morgenzug zu nehmen, nicht besonders verlokkend. Abschied um des Abschieds willen? Gelangweilt, doch
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher