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McEwan Ian

McEwan Ian

Titel: McEwan Ian
Autoren: Abbitte
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stimmt doch gar nicht.« Sie sagte nein, meinte aber ja. Natürlich spielte sie die Arabella. Sie hatte nur was dagegen, wie Lola »nehm ich mal an« sagte. Schließlich spielte sie die Arabella nicht, weil sie das Stück geschrieben hatte; sie übernahm die Rolle, weil ihr nie etwas anderes in den Sinn gekommen wäre, weil Leon sie als Arabella sehen sollte und weil sie eben Arabella war.
Doch sie hatte nein gesagt, und nun meinte Lola liebenswürdig: »Dann hast du also nichts dagegen, wenn ich sie spiele? Ich glaube, ich eigne mich ideal dafür. Ehrlich gesagt, von uns beiden bin ich…«
Sie ließ den Satz in der Schwebe, und Briony starrte sie an, unfähig, auch nur ein Wort zu sagen oder ihr Entsetzen zu verbergen. Das Stück entglitt ihr, doch wußte sie nicht, was sie erwidern sollte, um es erneut an sich zu ziehen.
Lola nutzte Brionys Schweigen zu ihrem Vorteil: »Letztes Jahr war ich lange krank, den Teil der Rolle könnte ich also auch gut spielen.«
Auch? Briony gelang es nicht, mit dem älteren Mädchen Schritt zu halten. Das Drama des Unvermeidlichen trübte ihre Sinne. Einer der Zwillinge sagte stolz: »Außerdem hast du in der Schulaufführung mitgespielt.«
Wie sollte sie ihnen erklären, daß Arabella keine Sommersprossen hatte? Ihre Haut war blaß, ihr Haar schwarz, und ihre Gedanken waren Brionys Gedanken. Aber konnte sie einer Kusine etwas abschlagen, die so fern von daheim war und deren Familienleben in Trümmern lag?
Lola schien ihre Gedanken zu lesen, denn jetzt spielte sie ihre letzte Karte aus, das unschlagbare As. »Bitte sag ja. Es wäre das einzig Schöne, was mir seit Monaten passiert ist.«
    Ja. Unfähig, das Wort über die Lippen zu bringen, vermochte Briony bloß zu nicken; sie war so entsetzt, daß ein Kribbeln selbstvernichtender Gefügigkeit über ihre Haut kroch, sich ausbreitete und den Raum zu verdunkeln schien. Sie wollte gehen, wollte sich hinlegen, allein, aufs Bett, mit dem Gesicht nach unten, und das Pikante dieses gräßlichen Augenblicks genießen, die Verästelungen des Geschehens bis zu jenem Moment zurückverfolgen, in dem die Welt noch in Ordnung war. Sie mußte sich mit geschlossenen Augen den ganzen Reichtum dessen ausmalen, was sie verloren, was sie fortgegeben hatte, und mußte sich innerlich auf dieses neue Regime einstellen. Es galt nicht bloß Leon zu bedenken, denn was war zum Beispiel mit dem creme- und pfirsichfarbenen, alten Satinkleid, das Mutter ihr für Arabellas Hochzeit herauslegen wollte? Das würde sie nun Lola geben. Wie konnte ihre Mutter die eigene Tochter übergehen, die sie doch all die Jahre geliebt hatte? Und als Briony sich ausmalte, wie sich das Kleid elegant um ihre Kusine schmiegte, als sie das herzlose Lächeln ihrer Mutter sah, da wußte sie, daß ihr nur noch ein einziger vernünftiger Ausweg blieb, daß sie fortlaufen, unter Hecken leben, Beeren essen und mit keinem Menschen mehr reden würde, bis im Dämmerlicht eines Wintermorgens ein bärtiger Waldschrat sie fand, zusammengerollt am Fuße einer riesigen Eiche, schön, aber tot, mit nackten Füßen, oder nein, lieber noch in den Ballettschuhen mit den rosa Schleifen…
Sie wollte sich nun ganz auf das Selbstmitleid konzentrieren, und nur in der Einsamkeit war sie in der Lage, den schmachvollen Details Leben einzuhauchen, doch kaum hatte sie zugestimmt (wie sehr ein Kopfnicken den Lauf der Welt verändern konnte!), nahm Lola auch schon Brionys Manuskriptbündel vom Boden auf, und die Zwillinge rutschten von den Stühlen, um ihrer Schwester in die Mitte des Kinderzimmers zu folgen, das Briony am Vortag ausgeräumt hatte. Durfte sie ihr jetzt einfach das Feld überlassen? Eine Hand an der Stirn, schritt Lola die Dielen auf und ab, überflog die ersten Seiten des Stücks und murmelte Sätze aus dem Prolog vor sich hin. Dann verkündete sie, daß es nicht schaden könne, am Anfang zu beginnen, und wies gleich ihren Brüdern die Rollen von Arabellas Eltern zu, beschrieb ihnen den Auftakt des Stückes und schien über diese Szene alles zu wissen, was es zu wissen gab. Gnadenlos weitete Lola ihren Einfluß aus und machte jegliches Selbstmitleid der Verfasserin zunichte. Aber vielleicht stand Briony die völlige Auslöschung noch bevor? Sie war nämlich nicht einmal als Arabellas Mutter eingeplant, weshalb jetzt wohl endgültig der Moment gekommen war, sich aus dem Zimmer zu stehlen, sich aufs Bett zu werfen und das Gesicht zu vergraben? Doch Lolas herrisches Vorgehen, ihre rücksichtslose
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