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McEwan Ian

McEwan Ian

Titel: McEwan Ian
Autoren: Abbitte
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unzutreffend waren: die Münzen, die ein Bösewicht in seinen Taschen verbarg, waren »esoterisch«, ein Gangster, der beim Diebstahl eines Wagens erwischt wurde, weinte in »schamloser Auto-Exkulpation«, die Heldin unternahm auf ihrem Vollblut einen »kursorischen« Ritt durch die Nacht, und die zerfurchte Stirn des Königs wurde zur »Hieroglyphe« seines Mißfallens. Die Familie ermunterte Briony, ihre Geschichten in der Bibliothek vorzulesen, und es überraschte die Eltern und auch die große Schwester, wie unerschrocken dieses stille Mädchen auftrat, um die Zuhörer in den Bann seiner Erzählkunst zu ziehen, wie es mit dem freien Arm gestikulierte, beim Sprechen der Dialoge die Augenbrauen in die Höhe zog und beim Lesen sogar sekundenlang vom Blatt aufschaute, um nacheinander jedem ins Gesicht zu sehen und unverhohlen die ungeteilte Aufmerksamkeit ihrer Familie einzufordern. Doch selbst ohne deren Aufmerksamkeit, ohne ihr Lob und ihre unübersehbare Freude an den Geschichten wäre Briony nicht vom Schreiben abzubringen gewesen. Zumal sie, wie so viele Schriftsteller vor ihr, feststellen mußte, daß nicht jede Anerkennung hilfreich ist. Cecilias Begeisterung zum Beispiel schien ein wenig übertrieben, vielleicht sogar mit Herablassung gepaart, und auch etwas peinlich, wollte ihre große Schwester doch jede gebundene Erzählung katalogisieren, um sie dann zwischen Rabindranath Tagore und Quintus Tertullian ins Regal einzureihen. Falls dies scherzhaft gemeint sein sollte, ließ Briony sich nicht davon beirren. Sie kannte nun ihren Weg und fand Erfüllung auf anderen Ebenen, denn Geschichten drehten sich nicht bloß um Geheimnisse, sie schenkten zudem noch jenen Genuß, den ihr alles Verkleinern bereitete. Auf fünf Seiten konnte sie eine Welt erschaffen, die sie glücklicher machte als ihr Modellbauernhof. Die Kindheit eines verwöhnten Prinzen ließ sich auf einer halben Seite umreißen, für einen Ritt im Mondschein durch verschlafene Dörfer brauchte sie nur einen einzigen rhythmisch betonten Satz, und mit einem Wort – einem Blick – vermochte sie die Liebe zu wecken. War eine Geschichte zu Papier gebracht, schienen die Blätter vor lauter Leben in ihrer Hand zu beben. Selbst ihrer Ordnungsliebe konnte sie frönen, ließ sich mit Worten doch jedes Chaos in geregelte Bahnen lenken. Eine Krise im Leben der Heldin durfte sie mit Hagelschauer, Donner und Sturm untermalen, wohingegen Hochzeitsfeierlichkeiten gemeinhin mit strahlendem Sonnenschein und einer sanften Brise gesegnet waren. Auch die waltende Gerechtigkeit gehorchte ihrem Ordnungssinn, denn Tod und Eheschließung verkörperten die treibenden Kräfte einer jeden Geschichte, die Ehe kam es an, oder vielmehr auf jene Hochzeit, die in formaler Vollendung die Tugend belohnte, auf das überwältigende Festgepränge, das atemberaubende Bankett und das schwindelerregende Versprechen eines lebenslangen Bundes. Eine gelungene Hochzeit war die uneingestandene Andeutung des zunächst noch Undenkbaren, der sexuellen Wonnen. Unter den beifälligen Blicken der versammelten Familien und Freunde strebten Held und Heldin durch die Gänge dörflicher Kirchen oder städtischer Kathedralen ihrem unschuldigen Höhepunkt entgegen und brauchten danach niemals wieder auch nur einen Schritt zu tun.
Wäre die Scheidung der heimtückische Gegensatz zu alldem gewesen, hätte man sie mühelos zu Krankheit, Verrat, Diebstahl, Gewalt und Lüge in die andere Waagschale werfen können, doch kam sie gänzlich unromantisch daher und steckte voller fader Probleme und Streitereien. Wie die Wiederbewaffnung, die Abessinienkrise oder die Gartenarbeit taugte sie schlichtweg nicht für eine Geschichte, und als Briony nach langem Warten am Samstag morgen endlich das Knirschen von Rädern unter ihrem Schlafzimmerfenster hörte, als sie die Seiten zusammenraffte und die Treppe hinunterstürzte, durch die Halle und hinaus ins gleißende Mittagslicht lief, lag es weniger am fehlenden Mitgefühl als am überaus konzentrierten künstlerischen Ehrgeiz, daß sie den verblüfften jungen Besuchern, die da ein wenig verloren mit ihrem Gepäck vor dem Einspänner standen, zurief: »Hier sind eure Rollen. Ich habe alles aufgeschrieben. Morgen ist die erste Vorstellung! Und in fünf Minuten fangen die Proben an!«
Doch ihre Mutter und ihre Schwester durchkreuzten Brionys Pläne augenblicklich mit einem sterbenslangweiligen Programm: Die Besucher – alle drei rothaarig und sommersprossig – wurden auf
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