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Massiv: Solange mein Herz schlägt

Massiv: Solange mein Herz schlägt

Titel: Massiv: Solange mein Herz schlägt
Autoren: Massiv mit Mariam Noori
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ich viele Dinge getan und erlebt, die so gar nicht zu einem Helden passten: Ich wurde unterdrückt, gedemütigt, hatte gelogen, gestohlen und geschlagen, manchmal hatte ich Angst und bin zurückgewichen, andere Male war ich schwach. Doch für diese Kinder war ich ein Held, vielleicht nicht in meinen eigenen Augen, aber in ihren. Und wenn ich vorher geglaubt hatte, bewundert zu werden oder seinen Traum zu leben sei das Höchste aller Dinge, so wurde ich an jedem Tag aufs Neue überrascht. Diese Kinder jubelten mir zu, sie rappten meine Songs nach, dabei verstanden sie nicht einmal die Sprache, und es war meine Aufgabe, sie für wenige Minuten von ihrem Alltag zu befreien, ihnen Hoffnung zu schenken, das Licht in ihren Augen zum Funkeln zu bringen. Ich fühlte mich dieser Aufgabe nicht gewachsen. Was war an mir schon heldenhaft?
    Als die Lichter im Kulturzentrum ausgingen, hämmerte mein Puls gegen meinen Schädel, und meine Hände waren schweißnass. Was war los mit mir, das waren doch bloß ein paar Kids, die noch nie im Leben auf einem Konzert waren. Doch genau da lag das Problem: Diese Kinder waren wahrscheinlich noch nie im Leben auf einem Konzert gewesen. Ich betrat die Bühne und als ich nach vorne schaute, konnte ich in der Dunkelheit nichts erkennen. Ich sah nur schwarze Umrisse hüpfender Gestalten, doch plötzlich blieb mein Blick an einem hellen Punkt in der Menge haften. Zwischen den anderen Kindern stand ein kleines Mädchen, einen grünen Schal um ihren Kopf gewickelt, die aus der Masse herausstach, weil sie ein brennendes Streichholz in der Hand hielt. Es war, als bliebe die Zeit stehen, alles um sie herum verschwamm zu einem tanzenden Bild. Es war faszinierend, denn obwohl sie so viele Meter von mir entfernt stand, konnte ich schwören, das Licht der Flamme in ihren Augen brennen zu sehen, bevor es in der Dunkelheit erlosch – ein Bild, das sich für immer in mein Herz einbrannte. Die Texte verließen meinen Mund wie von selbst, auf einmal war ich nicht mehr bloß ein Rapper oder Musiker, ich war eins mit meiner Musik. Jeder meiner Sätze ging mir näher als jemals zuvor, und obwohl unsere Schicksale so unterschiedlich waren, konnte ich ihren Schmerz fühlen. In diesem Moment spürte ich die Tränen über mein Gesicht laufen. Das letzte Mal hatte ich als Kind geweint, doch nun wurde der salzige Geschmack in meinem Mund immer stärker, weil immer mehr Tränen kamen, als wäre ein Damm gesprengt worden. Ich fühlte mich stark, obwohl ich Schwäche zeigte. Dieses Konzert in Palästina war eines der besten meines Lebens. Am Ende, als die Lichter wieder angingen, sah ich in die vielen strahlenden Gesichter – und zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich wie ein wahrer Held.
    Kurz bevor wir wieder abreisen mussten, zeigte mir Ronny einige Artikel, die in der Zwischenzeit in Deutschland über mich veröffentlicht worden waren. Wie so oft, wurde ich von den Medien zerfleischt, dieses Mal unter dem Motto »Wie kann man einen Gewalt-Rapper mit deutschen Steuergeldern in ein Kriegsgebiet schicken?«. Dabei bekam ich keinen müden Cent dafür, schlief in Flüchtlingscamps und gab gemeinnützige Konzerte, doch selbst dafür wurde ich kritisiert. Ich sei schließlich kein Vorbild, wie könne man jemanden wie mich dorthin schicken, wo doch alle meine Texte von Gewalt durchdrungen seien? Ich fragte mich nur, was man einem Jungen, der mir stolz die Bilder seiner toten Brüder zeigte, vorrappen sollte? Besonders FDP-Politiker hatten sich über mich aufgeregt und das Goethe-Institut für diese Entscheidung angegriffen.
    Ich wurde häufig wegen meiner Songs öffentlich attackiert. Es hieß, ich habe eine Vorbildfunktion, da könne ich doch nicht einfach solche Themen ansprechen. Musste man lügen und von einer Welt erzählen, die es so gar nicht gab, um ein Vorbild zu sein? Gewalt existierte überall auf der Welt, ob in der Gestalt einer Nonne aus Pirmasens oder eines Schlägers aus dem Wedding oder einer Bombe in Palästina. Meine Songs seien brachial und gewaltverherrlichend, ich würde Jugendlichen eine falsche Message vermitteln und sie in die falsche Richtung treiben. Gerne hätte ich diesen Journalisten einige Gegenfragen gestellt, wie zum Beispiel: »In was für einer Welt leben Sie?«, oder: »Wie würden Sie einem Fremden unseren Planeten beschreiben?«. Ich hätte darauf geantwortet, dass wir in einer schönen grausamen Welt leben, in der Kinder in Palästina ihre Eltern verlieren, an Hunger und
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