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Massiv: Solange mein Herz schlägt

Massiv: Solange mein Herz schlägt

Titel: Massiv: Solange mein Herz schlägt
Autoren: Massiv mit Mariam Noori
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Gesicht nicht mochte oder schlechte Laune hatte, konnte er einfach »Nein« sagen, und du durftest nicht passieren. Manchmal waren die Schlangen lang; Mütter mit Kindern im Arm oder ganze Familien standen in der Mittagssonne und diskutierten mit den Soldaten darüber, ihre Verwandten besuchen oder einen Arzt aufsuchen zu dürfen. Sie mussten für jede Stunde, wie Gefangene im offenen Vollzug, betteln. Einmal sah ich, wie israelische Soldaten Sanitäter aufforderten, das Innere eines gesamten Krankenwagens, mitsamt den Verletzten, zu entladen. Ich sah einen blutenden Mann auf der Krankenliege stöhnen. Der Sanitäter erklärte dem Soldaten, der Mann habe eine Schussverletzung und müsse nach Nablus transportiert werden, in ein Krankenhaus mit einem Herzspezialisten. Der Soldat winkte ab und überließ den Mann seinem Schicksal.
    Das Passieren der Kontrollpunkte war für mich eine einzige Tortur. Schon nach einer Woche war ich vom ständigen Warten und Diskutieren müde und gereizt. Bei der Vorstellung, dass Menschen seit Jahrzehnten jeden Tag diese Prozedur über sich ergehen lassen mussten und sich deshalb manche Arbeitswege von einer halben Stunde auf zwei vervierfachten, dass Menschen sterben mussten, weil sie nicht rechtzeitig einen Arzt erreichen konnten, geriet mein Blut in Wallung. Die Menschen lebten wie Tiere in Käfigen, sie waren ihren Haltern vollkommen ausgeliefert. Eine Beschwerde, ein falsches Wort war schon vielen zum Verhängnis geworden – die Soldaten in Palästina genossen absolute Narrenfreiheit. Manche Gegenden verwandelten sich schon ab 18 Uhr in eine Geisterstadt, es wurde Ausgangssperre verhängt, die Lichter abgestellt, und die Bewohner durften ihre Häuser nicht mehr verlassen. Die Feindseligkeit zwischen Israelis und Palästinensern lag derart stark in der Luft, man konnte sie fast greifen. Wenn sie aneinander vorbeigingen, fiel immer mal ein beleidigendes Wort, in glimpflichen Fällen blieb es bei einem bösen Blick. Durch die Besatzung der israelischen Soldaten genossen auch die israelischen Bewohner Narrenfreiheit. An Arafats Todestag am 11. November fuhren wir mit dem Bus durch Ramallah, wo gerade eine große Feier zu Ehren Arafats stattfand. Einige Businsassen hielten ihre Palästinensertücher aus den Fenstern und riefen laut Freiheit für Palästina. Plötzlich stoppte der Bus abrupt. Als ich aus dem Fenster schaute, die Militärkolonne erblickte und der Busfahrer die Türen öffnete, wusste ich, das würde Ärger geben. Die Menschen im Bus packten nervös ihre Tücher wieder ein und verhielten sich sehr ruhig. Im selben Moment stürmten drei israelische Soldaten, bewaffnet mit Maschinenpistolen, den Bus.
    Alle Passagiere schauten verängstigt auf den Boden, die Soldaten blieben vor demjenigen stehen, der Freiheit für Palästina gerufen hatte und hielten ihm die Waffe an die Schläfe. Der Mann rührte sich nicht, es sah aus, als würde er nicht einmal mehr atmen. Der Soldat, der ihn mit der Waffe bedrohte, trug ein höhnisches Grinsen im Gesicht – ganz so, als würde er die Situation genießen. Ich konnte nicht fassen, was ich da gerade sah. Ein Soldat bedrohte einen Mann mit einer Maschinenpistole, weil er sein Tuch aus dem Fenster gehalten und einen Satz gesagt hatte. Wenn er ihn jetzt erschießen würde, würden die Soldaten einfach sagen, es sei Notwehr gewesen, auch wenn alle Businsassen das Gegenteil behaupteten. Das Wort eines Israelis hatte hier mehr Gewicht als das von hundert Palästinensern. Diese Situation nutzen die Soldaten eindeutig aus. Es war hier wie bei einem Katz-und-Maus-Spiel; die Katze kennt ihre Überlegenheit, sie lässt die Maus zu ihrem eigenen Vergnügen, nur um ihren Jagdinstinkt zu stillen, zappeln, bevor sie verschlungen wird. Glücklicherweise ging diese Situation gut aus, und die Soldaten zogen wieder ab.
    Bei meinen Besuchen in den Flüchtlingslagern begegneten mir sehr viele ungewöhnliche Menschen. Einmal traf ich einen zwölfjährigen Jungen namens Omar. Omar trug nur einen Schuh am Fuß, was jedoch nicht ungewöhnlich war, denn die meisten palästinensischen Kinder liefen in Lumpen durch die Straßen. Schuhe waren ein Luxusgut, das sich nicht viele leisten konnten. Mich erstaunte aber, dass Omar ein Handy besaß, das er mir stolz präsentierte. Ein Handy war ein echter Besitz, etwas, das man gegen Geld oder Essen eintauschen konnte. Wofür brauchte ein Kind ohne Schuhe ein Mobiltelefon? Diese Frage stellte ich ihm dann auch. Sofort
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