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Massiv: Solange mein Herz schlägt

Massiv: Solange mein Herz schlägt

Titel: Massiv: Solange mein Herz schlägt
Autoren: Massiv mit Mariam Noori
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säße ich auf einer Anklagebank.
    »Ich weiß nicht … nein … nur so …«
    »Warum sind Sie denn nervös?«, fragte das Milchgesicht höhnisch. Ich überlegte einen Augenblick, was sie innerhalb der Kürze der Zeit noch über mich rausgefunden haben könnten. Wenn die Wind davon bekamen, dass ich einen Pro-Palästina-Song aufgenommen hatte oder womöglich noch aggressive Textpassagen alter Songs übersetzten, wären sie mit Sicherheit davon überzeugt, dass ich mit anderen Absichten nach Palästina gekommen war. Die beiden Männer sahen sich erneut an, dann forderten sie mich synchron auf, mich auszuziehen. Ich schaute sie verständnislos an, doch das Milchgesicht wiederholte die Aufforderung, und dieses Mal in einem sehr lauten und unfreundlichen Ton. Also tat ich, was sie von mir verlangten, denn ich hatte wenig Lust, meinen Aufenthalt in einem israelischen Gefängnis zu verbringen. Da stand ich nun nackt vor zwei Beamten am Flughafen von Tel Aviv. Das Milchgesicht, natürlich , zog sich einen Handschuh über, und bevor ich begreifen konnte, was geschieht, hatte er schon seinen Finger in meinem After und untersuchte mich überall aufs Gründlichste. Ich musste mich geschlagene vier Stunden weiteren Verhören und mehreren Taschen-und Leibesdurchsuchungen unterziehen.
    Irgendwann kam noch eine Frau dazu, die das eingefrorene Gesicht einer Eisfigur hatte, und stellte mir erneut dieselben Fragen, auf die ich dieselben Antworten gab. Dann schaute sie in meinen Pass und machte große Augen. Überraschenderweise wollte sie wissen, ob ich heute Geburtstag hatte. Ja natürlich, es war der 9. November, und wie sie meinem Pass entnehmen konnte, hatte ich am 9. November Geburtstag, antwortete ich patzig. Dann sagte sie etwas zu ihren Kollegen, und ich stöhnte laute auf, weil ich müde und entnervt war. Plötzlich, vollkommen unerwartet, begannen alle drei im Chor »Happy Birthday« zu singen. Ich schaute hoch, das Neonlicht blendete mich – ich hielt das Ganze für einen schlechten Scherz, doch die Frau sah mich mit einem breiten Lächeln an und sang aus vollem Herzen, während das Milchgesicht grimmig mitsang. Am Ende gaben sie mir meinen Reisepass und mein Handgepäck und entließen mich mit dem Kommentar, wegen meines Geburtstages eine Ausnahme zu machen. So begann meine Reise nach Palästina.
    Der Fahrer fährt über ein Schlagloch, unsere Körper heben ab, und unsere Köpfe schlagen gegen das Autodach. Er fährt über Rot und streift beinahe einen vorbeifahrenden Wagen, lässt sich davon aber nicht beirren, gibt stattdessen noch mehr Gas. Die Autofahrer hier sind genauso gesetzlos wie das Land an sich. Hier herrscht höchstens eine fiktive Justiz. Wie viel Bedeutung kann man schon Gesetzen geben, wenn ein Menschenleben keinen Wert und das Land von unrechtem Recht beherrscht wird? Hier kann man allerhöchstens mit Selbstjustiz etwas bewirken, die Menschen sind hier Henker und Richter zugleich. Wir erreichen das UNICEF-Lager. Nablus, Dschenin, Bethlehem und Ramallah – in vier Tagen würde ich vier Konzerte geben.
    Ich hatte schon immer den Wunsch, nach Palästina zu reisen, doch ich wollte nicht einfach einen Urlaub dort verbringen, sondern das Land richtig kennenlernen . Fünf Tage später hatte ich Palästina kennengelernt – und die Realität übertraf meine schlimmsten Erwartungen. Trotz der niederschmetternden Eindrücke, die sich mir hier offenbarten, empfand ich diese Reise als den Höhepunkt meiner Karriere. Palästina hat meine Sinne geschärft, meine Denkweise verändert und mir eine Welt gezeigt, die jede Vorstellungskraft sprengt – im negativen wie im positiven Sinne. Menschen und vor allem Kindern zu begegnen, die wie Sardinen in der Büchse leben, die Tod, Verlust, Schmerz und Folter kennen und trotzdem die Hoffnung nicht verloren haben, war eine der wichtigsten Erfahrungen, die ich in meinem bisherigen Leben sammeln durfte. Ich sah überfüllte Flüchtlingslager, traf verwaiste, von Minen gezeichnete Kinder, begegnete Müttern, die um ihre Söhne trauerten, hörte Geschichten von Familien, die der Krieg auseinandergerissen hatte.
    Schon ein Gang von einem Ort zum nächsten sollte sich als tägliche Herausforderung erweisen. An einigen Kontrollpunkten mussten wir stundenlang warten, bis wir passieren durften. Wir mussten uns jedes Mal rechtfertigen, warum und für wie lange wir vorhatten, in einem bestimmten Gebiet zu bleiben. Wenn es einem der Soldaten nicht passte, er einfach dein
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