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Massiv: Solange mein Herz schlägt

Massiv: Solange mein Herz schlägt

Titel: Massiv: Solange mein Herz schlägt
Autoren: Massiv mit Mariam Noori
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tippte er in das alte Nokia-Modell, eines der ersten mit Kamerafunktion. Er zeigte mir das Bild eines Toten und eine weitere Leiche mit einem zertrümmerten Schädel. Ich verstand nicht.
    »Das sind meine Brüder. Es sind die einzigen Bilder, die ich von ihnen habe.« Seine Worte versetzten meinem Herzen einen Stich.
    »Das tut mir leid für dich.«
    »Braucht es nicht. Sie sind als Shahids , Märtyrer, gestorben.« Ich konnte in seinen Augen keine Angst oder Trauer erkennen, nur die tiefe Verehrung, für etwas zu sterben, das einem höheren Ziel dienen sollte. Hier hatten die Menschen andere Ziele. Während man in Europa von einem langen, erfüllten Leben träumte, glaubte man hier an einen kurzen sinnvollen Tod. Im selben Flüchtlingslager lernte ich auch eine ältere Frau kennen. Sie hockte im Schneidersitz auf dem Boden und flickte gerade ein Loch in einem Kleidungsstück, als ich den Raum betrat. Um sie herum tobten insgesamt sieben Kinder, das ohrenbetäubende Geschrei und der Gestank nach Exkrementen trieb mich schon nach wenigen Sekunden beinahe in den Wahnsinn. Die Frau, die sich mir als Hawa vorstellte, war alt und ergraut, aber sie hatte stechende pechschwarze Augen und ein Gesicht, das von Charakterstärke nur so strotzte. Ich fragte sie, ob die Kinder ihre eigenen seien. Sie schnalzte mit der Zunge und erwiderte, vier seien ihre und drei die ihrer Schwester. »Wo ist deine Schwester?«, hakte ich nach.
    »Tot«, antwortete sie kühl und verzog im nächsten Moment ihr Gesicht, weil sie sich mit der Nadel in den Finger gestochen hatte.
    »Und dein Mann?«
    »Tot.« Ich wollte mich nicht weiter aufdrängen und schwieg, woraufhin die Frau fortfuhr: »Sie wurden ermordet.«
    »Von wem?«
    »Den Israelis natürlich.« Sie biss den Faden durch und machte einen Knoten ans andere Ende. »Sie sind eines Tages in unser Haus gestürmt und haben alle erschossen, die sich weigerten, das Haus zu verlassen. Sie haben uns auf die Straße gezerrt, in einer Reihe aufgestellt und dann geschossen. Auf meine Schwester, den Mann meiner Schwester, meinen Mann und drei meiner ältesten Söhne, weil sie sich vor ihren Vater geworfen hatten.
    Die Soldaten waren so nett, ihnen in Kopf und Brust zu schießen, deshalb waren sie auch gleich tot. Manchmal schießen sie den Menschen auch in den Bauch, damit sie sich erst stundenlang quälen, bevor sie krepieren. Bei uns haben sie das nicht getan – wir hatten Glück.« Ich schluckte bei ihren Worten.
    »Das tut mir leid.«
    »Das Schlimmste war, dass ich sie einfach so da liegen lassen musste. Sie zwangen mich zu gehen, wohin auch immer, mit sieben Kindern, ohne auch nur eine Münze in den Taschen. Ich musste sie dort liegen lassen, meine Familie , während ihnen die Gehirne aus den Ohren quollen und das Blut aus den Adern floss. Ich musste sie dort liegen lassen und den Hunden überlassen.« Die Frau zog einem der plärrenden Kinder ein Kleidungsstück über den Kopf und widmete sich wieder Nadel und Faden. Der Krieg und die Menschen waren hier anscheinend ein eingespieltes Team. Frieden war ihnen fremd – und was man nicht kannte, konnte man auch nicht vermissen.
    Natürlich stieß ich nicht nur auf Negatives in Palästina. Bei einem Konzert in Dschenin kam ein Junge, dem der rechte Arm fehlte, auf mich zu und sagte, ich sei der Held aller Helden, weil ich es als Palästinenser sogar in Deutschland geschafft hatte.
    Es war das erste Mal, dass mir bewusst wurde, dass ich für einige Kinder auf dieser Welt ein Held war.
    Es waren keine gewöhnlichen Kinder, sondern Kriegswaisen, Kinder mit entstellten Körpern und solche, die kein Dach über dem Kopf hatten. Ihre Helden liefen für gewöhnlich mit Maschinengewehren durch die Straßen oder sprengten sich selbst in die Luft – diese Kinder hatten mit ihren jungen Jahren mehr gesehen, als ich jemals zu Gesicht bekommen würde. Wir alle brauchen Helden, doch diese Kinder brauchen sie dringend. Helden sind die idealisierte Form unseres eigenen Ichs. Helden sind mutig, sie kämpfen für die gute Sache und haben keine Angst, gegen den Strom zu schwimmen. Sie sind Krieger, Sportler, Künstler, Musiker, Actionhelden – ob sie kämpfen, singen oder einen Basketball im Korb versenken, haben sie alle etwas gemeinsam: Mut. Die Menschen sind so oft voll von Furcht, haben Angst, ihre Meinung zu sagen, einen Schritt in die entgegengesetzte Richtung zu tun oder ihre Träume zu leben.
    Ich hielt mich nicht für einen Helden. In meinem Leben hatte
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