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Marilene-Mueller 04 - Wenn Ostfriesen sterben

Marilene-Mueller 04 - Wenn Ostfriesen sterben

Titel: Marilene-Mueller 04 - Wenn Ostfriesen sterben
Autoren: Beate Sommer
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Grund dafür so richtig benennen konnte. Vielleicht, überlegte sie, lag es daran, dass er ihr Bild von der heilen Welt Ostfrieslands beschädigte. Natürlich war ihre Wahrnehmung ziemlich blauäugig, wenn nicht gar naiv, das musste sie zugeben. Sie runzelte unwillkürlich die Stirn, während sie darauf wartete, dass die Fußgängerampel auf Grün sprang. Aber irgendwie hatten all die jungen Familien, die vielen Kinder den Anschein erweckt, dass Ehen hier für die Ewigkeit geschlossen wurden. Als seien Scheidungen ein rein großstädtisches Phänomen. Gab es da ein Stadt-Land-Gefälle? Vielleicht insofern, als Geschiedene vermutlich selten auf dem Land blieben, wenn der Partner die Biege machte. Idylle war nichts für Singles, und dörfliche Gemeinschaft sicher ebenso wenig. Um eine solche Statistik zu erheben, müsste es natürlich eine objektive Definition für »Stadt« geben: Nach hiesigen Maßstäben war Leer eine Stadt. Aber Marilene kam aus Wiesbaden, ihr eigener Eindruck war da ein ganz anderer. Dennoch war Leer für sie der ideale Kompromiss zwischen beiden Lebensformen, ein Touch Idylle gepaart mit städtischer Infrastruktur. Ins Umland wäre sie jedenfalls nie gezogen.
    Grün, endlich. Ein Pulk radfahrender Jugendlicher kam ihr entgegen und teilte sich wie von Zauberhand so kurz vor ihr, dass sie schon fürchtete, sie würden sich gegenseitig umfahren, aber nichts passierte. Dabei fuhren die meisten auch noch freihändig. Ziemlich früh für Schulschluss, fand sie. War ein Lehrer krank, oder hatte es heute Schönwetterfrei gegeben? Nachvollziehbar wäre es. Der Sommer war in diesem Jahr ausgefallen oder hatte noch vor ihrem Umzug im Mai stattgefunden, und bis er sich vor ein paar Tagen entschlossen hatte, doch noch mal aufzukreuzen, hatte es fast nur geregnet. Es hatte sie nicht groß gestört, sie hatte wahrlich genug zu tun gehabt.
    Sie hatte erwartet, dass man ihr, einer Zugezogenen, obendrein einer Frau, beruflich mit Vorbehalten oder zumindest mit Zurückhaltung begegnen würde, aber das war nicht der Fall gewesen. Ein einziger Mandant war bislang abgesprungen, und der war über achtzig, würde also ohnehin nicht mehr allzu lange juristischen Beistand brauchen. Sie schmunzelte. Der Alte hatte sich eine Anzeige wegen sexueller Nötigung eingehandelt, ein kniffliger Fall, denn sie hätte selbst Grund genug gehabt, ihn deswegen anzuzeigen. Als sie ihn mit deutlichen Worten in seine Schranken verwiesen hatte, war er wutentbrannt davongerauscht, im wahrsten Sinne, hatte er doch einige Papier- und Aktenstapel im Vorbeigehen wie unabsichtlich von ihrem Ablagetisch gefegt.
    Spieker, ihr Vorgänger, der auf einen Besuch vorbeigekommen war, hatte sie auf dem Fußboden liegend vorgefunden, wo sie versuchte, mit einem Lineal auch die Blätter zu erwischen, die sich unter den Schränken verkrochen hatten. Auf seine Frage, was denn passiert sei, hatte sie nur etwas von sexueller Nötigung schimpfen müssen, schon hatte er gewusst, um wen es sich handelte. »Regelmäßige Einnahmequelle«, hatte Spieker versprochen, »einmal im Jahr. Mir war nur nicht klar, dass er es auch bei Ihnen versuchen würde, sonst hätte ich Sie vorgewarnt.«
    Nein, sie hatte gut daran getan, diesen Ortswechsel zu wagen. Sie hatte das Gefühl, ihrer Vergangenheit entkommen zu sein, und fühlte sich befreit. Dabei war manches beim Alten geblieben. Lothar Männle war ihr in ihr neues Leben gefolgt. Nicht nur hatte er hier das Haus gekauft, in dem sich die Kanzlei und ihre Wohnung befanden, sodass er, wie schon in Wiesbaden, ihr Vermieter war. Obendrein hatte er das Notariat von Spiekers Kompagnon übernehmen wollen, zumindest hatte er ihr das weisgemacht, aber da es Notaren nicht gestattet war, mehrere Geschäftsstellen zu unterhalten, sie auch nicht einfach das Bundesland wechseln konnten, würde er nun seine Tätigkeit in Wiesbaden ganz aufgeben und hierher übersiedeln, um mit ihr eine Anwaltssozietät einzugehen.
    Sie hatte lange mit sich gerungen, ob sie zustimmen sollte, schließlich waren ihre Erfahrungen mit Sozietäten nicht die besten. Aber letztlich hatte sie keine große Wahl gehabt. Die Büroräume gingen ohnehin ineinander über, und es gab nur einen Empfangsbereich, dessen Hüterin sich schon ihre Vorgänger geteilt hatten. Was sie indes am meisten umtrieb, war die Frage nach seinem Motiv für den Ortswechsel. Seine Antwort hatte sie nicht entfernt zufriedengestellt: Es sei an der Zeit für neue Herausforderungen. Mal ganz
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