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Margos Spuren

Margos Spuren

Titel: Margos Spuren
Autoren: John Green
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Frau sich scheiden lassen wollte.«
    Margo schwieg, und ich sah sie an, ihr Gesicht grau und vom Mond beschienen und durch das Fliegengitter in tausend kleine Kästchen zerlegt. Ihre großen runden Augen sahen von ihrem Notizbuch zu mir und wieder zurück. Ich sagte : »Viele Leute lassen sich scheiden, ohne sich deswegen umzubringen.«
    »Genau«, antwortete sie aufgeregt. »Genau das habe ich auch zu Juanita Alvarez gesagt. Und da hat sie gesagt …« – Margo blätterte in ihrem Notizbuch – »sie sagte, Mr. Joyner hatte Probleme. Und als ich sie fragte, was sie damit meint, hat sie gesagt, wir sollen für ihn beten und ich sollte meiner Mutter jetzt den Zucker bringen, und da habe ich gesagt, vergessen Sie den Zucker, und bin gegangen.«
    Ich schwieg. Ich wollte, dass sie weiterredete – ihre leise, aufgeregte Stimme, weil sie beinahe etwas rausgefunden hatte, gab mir das Gefühl, dass etwas Wichtiges in meinem Leben passierte.
    »Ich glaube, ich weiß vielleicht, warum er es getan hat«, sagte sie.
    »Warum?«
    »Vielleicht sind alle Saiten in ihm gerissen.«
    Während ich überlegte, was ich antworten sollte, schob ich den Riegel des Fliegengitters zurück und nahm es aus dem Fenster. Ich stellte das Gitter auf den Boden, aber sie wartete nicht ab, was ich zu sagen hatte. Bevor ich wieder saß, sah sie mich an und flüsterte : »Mach das Fenster zu.« Und ich gehorchte. Ich dachte, sie würde gehen, aber sie blieb einfach stehen und beobachtete mich durch die Scheibe. Ich winkte ihr zu und lächelte, doch ihr Blick war auf etwas hinter mir gerichtet, auf etwas Grauenhaftes, das ihr die Farbe aus dem Gesicht trieb, und ich bekam solche Angst, dass ich mich nicht umdrehen und nachsehen konnte. Aber da war natürlich nichts hinter mir. Höchstens vielleicht der Tote aus dem Park.
    Ich hörte auf zu winken. Wir waren auf gleicher Höhe, als wir uns durch die Scheibe anstarrten. Ich weiß nicht mehr, was dann passiert ist – ob ich zuerst ins Bett ging oder sie. In meiner Erinnerung hört die Szene nicht auf. Wir stehen einfach nur da und sehen einander bis in alle Ewigkeit an.
     
    Margo hat Rätsel immer geliebt. Und bei allem, was später passierte, wurde ich den Gedanken nicht los, dass sie Rätsel vielleicht so liebte, dass sie selbst zu einem wurde.

 
     
    Teil 1
    Die Saiten

1
    Der längste Tag meines Lebens fing mit Verspätung an. Ich hatte verschlafen, trödelte unter der Dusche und musste schließlich unterwegs frühstücken, neben meiner Mutter im Auto, um 7 :17 Uhr.
    Normalerweise holte mein bester Freund mich ab, doch Ben war pünktlich und damit zu früh für mich. »Pünktlich« hieß bei uns dreißig Minuten vor dem Unterricht, weil der Höhepunkt unseres gesellschaftlichen Lebens sich in der halben Stunde vor dem ersten Klingeln abspielte : an der Seitentür zum Musikraum, wo wir uns täglich versammelten und quatschten. Die meisten meiner Freunde waren im Orchester, und die meiste meiner freien Zeit verbrachte ich in einem Radius von fünf Metern um den Musikraum. Nur ich selbst war nicht im Orchester, weil ich an einer Art Tontaubheit litt, die an völlige Taubheit grenzte.
    Jetzt war ich zwanzig Minuten zu spät, was bedeutete, dass ich immer noch zehn Minuten zu früh zur Schule kam.
    Auf der Fahrt fragte meine Mutter nach der Schule und den Prüfungen und dem Abschlussball.
    »Ich bin kein Freund des Schulballs«, erinnerte ich sie, als wir um eine Ecke bogen und ich geschickt die Cornflakesschale balancierte, um die Fliehkräfte auszutricksen. Ich hatte Übung darin.
    »Was ist dabei, wenn du einfach eine Freundin fragst? Cassie Hiney würde bestimmt mit dir hingehen.« Ich hätte Cassie Hiney wirklich fragen können. Sie war ein völlig nettes, angenehmes und hübsches Mädchen – trotz der Tatsache, dass sie einen ungemein dämlichen Nachnamen hatte.
    »Es ist nicht nur so, dass ich den Schulball blöd finde. Ich finde auch die Leute blöd, die den Schulball gut finden«, erklärte ich, was streng genommen nicht stimmte. Ben wollte unbedingt zum Schulball gehen.
    Wir erreichten das Schulgelände, und ich hielt die fast leere Cornflakesschale mit beiden Händen fest, als wir über die Schwellen zur Geschwindigkeitsbegrenzung rumpelten. Unbewusst scannte ich den Schülerparkplatz. Margo Roth Spiegelmans silberner Honda stand an seinem angestammten Platz. Als Mama vor dem Musikraum anhielt und mir einen Kuss auf die Wange drückte, sah ich Ben und die anderen im Halbkreis
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