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Marco Polo der Besessene 1

Marco Polo der Besessene 1

Titel: Marco Polo der Besessene 1
Autoren: Gary Jennings
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hören, wenn ich eigens danach horchte. Ich brauchte dann nur zu den anderen vorauszureiten oder hinterherzutrödeln und eine Weile zu warten. Dann hörte ich es, aus dieser oder jener Richtung, das Aufstöhnen eines Berges, der einen Teil von sich verlor, und dann die einander überschneidenden Echos aus allen Himmelsrichtungen: alle anderen Berge stimmten in den Klagegesang ein.
    Wie das auch in den Alpen geschehen kann, bestanden die zu Tal rauschenden Lawinen oft auch aus Schnee und Eis. Häufiger jedoch kündeten sie von dem langsamen Verfall der Berge selbst, denn dieser Pai-Mir mag zwar unendlich viel größer sein als die Alpen, aber er besteht auch aus merklich weniger festem Gestein. Aus der Ferne machen diese Berge den Eindruck, als stünden sie fest und für die Ewigkeit gegründet da, aber ich habe sie auch von nahem gesehen. Sie bestehen aus einem von vielen Adern durchzogenen, rissigen und mit vielen Verunreinigungen behafteten Gestein, und die erhabene Höhe der Berge selbst trägt dazu bei, daß ständig an ihrer Festigkeit gerüttelt wird. Reißt der Wind in großer Höhe auch nur einen einzigen kleinen Stein heraus, bringt er durch seinen Fall andere Felsteile ins Rutschen, das wiederum lockert weiteres Gestein, bis sie alle gemeinsam immer schneller in die Tiefe stürzend gewaltige Felsblöcke umwerfen, die im Fallen den Rand eines Steilhangs zermalmen und herausbrechen, und das wiederum kann einen ganzen Berghang wegrutschen lassen. Und so weiter, bis eine riesige, aus Felsen, Steinen, Geröll, Erde, Staub und für gewöhnlich auch mit Schnee, Schneematsch und Eis untermischte Masse - welche die Größe von kleinen Alpen erreichen kann -in die engen Schluchten oder die womöglich noch engeren Spalten, die Berge voneinander trennen, hinunterrauscht.
    Jedes Lebewesen, das einer Pai-Mir-Lawine im Wege steht, ist verloren. Wir trafen auf so manche Zeugen dieser Tatsache die Gerippe und Schädel sowie die prachtvollen Gehörne von goral-, unal-und ›Marcos-Schafen‹, aber auch die Gebeine und Totenschädel und erschütternd zertrümmerten Habseligkeiten von Menschen -die Überreste zugrunde gegangener Wildherden und lange verschollener karwans. Diese Unglücklichen hatten die Berge ächzen hören, dann aufstöhnen, aufbrüllen -und dann haben sie nie wieder überhaupt etwas gehört. Nur der Zufall bewahrte uns vor dem gleichen Schicksal, denn es gibt keinen Weg, keinen Lagerplatz und keine Tageszeit, in der keine Lawinen niedergehen. Glücklicherweise begrub uns keine, doch hatten wir oft Gelegenheit festzustellen, daß der Weg völlig verschüttet war, was uns zwang, einen Weg um diese Unterbrechung herum zu suchen. Das war schon schlimm genug, wenn eine solche Lawine eine schier unbezwingliche Geröllbarriere vor uns errichtet hatte. Noch schlimmer freilich für uns war es, wenn der Pfad -und das war häufig der Fall -nichts mehr war als ein schmales Sims an einer glatten Felswand -und eine Lawine herniedergegangen war, die eine unüberbrückbare Lücke hinterlassen hatte. Dann blieb uns nichts anderes übrig, als kehrtzumachen und den manchmal viele farsakhs langen Rückweg anzutreten und hinterher eine noch längere Umgehung zu finden, ehe wir endlich wieder weiter nach Norden vorstoßen konnten.
    Folglich fluchten mein Vater, mein Onkel und Nasenloch bitterlich, und die Chola wimmerten erbärmlich jedesmal, wenn sie das polternde Grollen von Steinschlag und Lawinen hörten, gleichgültig, aus welcher Richtung sie kamen. Ich hingegen war jedesmal tief von diesem Laut angerührt und kann einfach nicht verstehen, warum andere Reisende meinen, er sei es nicht wert, in ihren Erinnerungen Erwähnung zu finden; dieser Laut bedeutet schließlich, daß diese Berge nicht für alle Ewigkeit stehen bleiben werden. Selbstverständlich wird es Jahrhunderte dauern, ehe sie gänzlich zerborsten und zerbröckelt sind, und Jahrtausende und Äonen, ehe der Pai-Mir bis auf die Größe der immer noch erhaben hohen Alpen geschrumpft sein wird -aber es wird geschehen, und zuletzt wird nichts übrigbleiben als gesichtsloses flaches Land. Als mir das aufging, fragte ich mich, warum Gott, wenn er sie doch nur stürzen lassen will, sie ursprünglich so über die Maßen hoch aufgetürmt hat. Und fragte und frage mich heute noch, wie unermeßlich, alle Vorstellung übersteigend und unsäglich hoch diese Berge gewesen sein müssen, als Gott sie während der Schöpfung entstehen ließ.
    Da alle diese Berge von denselben
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