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Marco Polo der Besessene 1

Marco Polo der Besessene 1

Titel: Marco Polo der Besessene 1
Autoren: Gary Jennings
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gewaltiger Höhe und bildeten eine Bergkette nach der anderen. Doch wie soll ich in ohnmächtigen Insektenworten die überwältigende Majestät dieser Berge wiedergeben? Man lasse mich folgendes sagen: wie hoch und großartig die Alpen in Europa sind, weiß jeder Reisende und jeder Gebildete im Abendland. Und ich möchte noch folgendes hinzufügen: gäbe es so etwas wie eine ausschließlich aus Alpen bestehende Welt, dann wären die Gipfel des Pai-Mir die Alpen dieser Welt.
    Noch etwas anderes möchte ich zu diesen Pai-Mir-Bergen bemerken, etwas, das ich nie von einem anderen Reisenden gehört habe, der von dorther zurückgekommen ist. Die Männer, die schon ihr Leben lang mit den karwans zogen, hatten uns freigebig guten Rat über das erteilt, was wir erleben würden, wenn wir erst einmal dort wären. Keiner von ihnen hat jedoch von einer Seite der Berge gesprochen, die ich als besonders interessant und erinnerungswürdig empfinde. Sie redeten zwar von den schrecklichen Wegeverhältnissen im Pai-Mir und von dem Wetter, das eine Strafe sei, und sie hatten uns auch gesagt, wie ein Reisender am besten mit diesen Schwierigkeiten fertig wurde. Niemals jedoch haben die Männer von dem gesprochen, was mir am lebhaftesten in der Erinnerung steht: von dem unablässigen Lärm, den diese Berge machen.
    Dabei meine ich nicht das Heulen von Winden, Schnee-und Sandstürmen, obgleich ich das weiß Gott oft genug gehört habe. Wir hatten häufig mit einem Wind zu kämpfen, in den man sich buchstäblich hineinfallen lassen konnte, ohne zu Boden zu gehen -man hing dann eben schräg in der Luft, vom starken Wind so gehalten. Und zum Heulen dieses Windes kam noch das Gebrodel des treibenden Schnees oder das Prasseln des dahinjagenden Sands oder Staubs, wie das in Höhen vorkam, in denen der Winter immer noch nicht ganz weichen wollte, oder in den tiefen Schluchten, in denen jetzt später
    Frühling war. Nein, das Geräusch, an das ich mich so gut erinnere, waren die Laute, die vom Zerfall der Berge ausgingen. Ich hätte nie vermutet, daß Berge von so gewaltiger Größe ständig zerfallen, auseinanderbersten und zu Tal rutschen. Als ich dieses Geräusch das erste Mal hörte, dachte ich, es sei ein Donner, der zwischen den Schroffen hallte, und darüber wunderte ich mich, denn Wolken waren in dem tiefblauen Himmel keine zu sehen. Außerdem konnte ich mir auch nicht vorstellen, daß bei so kristallklarem und kaltem Wetter ein Gewitter aufziehen sollte. Ich ließ mein Reittier halten, saß still im Sattel und lauschte.
    Das Geräusch begann als tiefes Grollen irgendwo weit vor uns, steigerte sich zu einem fernen Brüllen, und dann setzte sich dieses Geräusch aus den vielen Echos zusammen, die das ergab. Andere Berge hörten es und gaben es zurück wie ein Sängerchor, bei dem ein Sänger nach dem anderen das Thema eines einzeln singenden Baßsängers aufnahm. Die Stimmen wälzten das Thema aus und erweiterten es, fügten den Widerhall von Tenören und Baritonen hinzu, bis der Klang mal von da und dann wieder von dort, von hinter mir und von überallher um mich herum auf mich eindrang. Wie verzaubert von dem trommelnden Widerhall blieb ich stehen, bis aus dem Donner ein Summen und Brummen wurde und es schließlich vollends verstummte. Doch taten dies die Bergstimmen nur höchst zögernd, eine nach der anderen, so daß ein menschliches Ohr den Augenblick, da der Klang in Schweigen erstarb, nicht genau mitbekam.
    Der Talvar genannte Chola ritt auf seinem struppigen kleinen Pferd neben mich, sah mich an und brach meine Verzauberung, indem er in seiner Muttersprache Tamil sagte: »Lawine.« Ich nickte, als hätte ich es die ganze Zeit über gewußt, dann ließ ich mein Pferd die Schenkel spüren und ritt weiter.
    Das war nur das erste von ungezählten Malen, daß ich es erlebte: eigentlich konnte man das Geräusch fast jederzeit Tag und Nacht hören. Manchmal kam es aus so großer Nähe unseres Weges, daß wir es über dem Knarren und Klirren unseres Zaumzeugs und der Karrenräder und dem Mahlen und Zähneknirschen unserer Yakherde hören konnten. Hoben wir rasch den Blick, ehe die Echos es unmöglich machten, die Richtung zu erkennen, aus der es kam, sahen wir hinter irgendeiner Bergkette sich eine rauchartige Staubwolke zum Himmel emporwölken oder ein glitzerndes Luftgebilde aus Schneestaub, die über jener Stelle standen, wo die Lawine zu Tal gegangen war. Doch das Geräusch weiter entfernter Steinlawinen konnte ich eigentlich immer
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