Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Marathon

Marathon

Titel: Marathon
Autoren: Helmut Frangenberg
Vom Netzwerk:
gefräßiges Monster
würde sich bald der Schildbohrer für die U-Bahn-Trasse
den Weg durch die alten Straßenzüge bahnen und manch
altes Geschäft verschlingen, dem im ohrenbetäubenden
Baulärm hinter hohen Bauzäunen die letzten Kunden
verloren gehen würden.
    Von der anderen
Straßenseite hatten sie einen guten Blick auf den Parkplatz
des Citroens. An den Supermarkt schlossen sich ein
Schuhgeschäft und ein Schreibwarengeschäft an.
»Büro-Zeichenbedarf« und
»Büro-Maschinen« stand in blauen Lettern auf
weißem Grund an der furchtbar hässlichen, gelb
getünchten Nachkriegsbausünde, die in der Nachbarschaft
der großartigen alten Stadthaus-Fassaden gleich ins Auge
fiel.
    »Was zum Teufel
sind Büro-Maschinen?«, wunderte sich Remmer. »Und
wenn ich's wüsste: Warum sollte ich die hier
kaufen?«
    Sie betraten den
kleinen türkischen Lebensmittelladen zwischen
Tapetengeschäft und Frisör. Die Hauptkommissarin suchte
nach Obst als Abendessenersatz. Der türkische Verkäufer
stand mit einer kleinen Tüte zum Einpacken bereit.
    »Haben Sie was
gesehen?«, versuchte Gröber mit einer Frage an den
Verkäufer die Zeit sinnvoll zu überbrücken, die
Remmer für den Kauf von ein paar Äpfeln und Birnen
brauchte, und zeigte auf die andere Straßenseite.
»Irgendwas Auffälliges? Einen Mann, der vor der
Baustellenausfahrt einparkt, zum Beispiel?«
    Der Verkäufer
schüttelte mit dem Kopf, während ihm Remmer das Obst zum
Verpacken reichte.
    »Wir
könnten auch was Richtiges essen gehen«, schlug
Gröber vor, als sie den Laden verließen. »Einen
Döner oder so was.«
    Iris Remmer hätte
ihrem Kollegen gern beigebracht, wie schön ein gutes Essen in
einem gepflegten Lokal, in dem man sich sogar hinsetzen durfte,
sein könnte. Aber sie hatte das dumpfe Gefühl, dass sich
die Mühe nicht lohnte.
    »Ich habe keine
Lust«, sagte sie nur. »Ich fahre dich nach
Hause.«
    Der hungrige
Gröber protestierte leise, als sie in den Wagen einstiegen.
Remmer setzte zurück und bahnte sich ähnlich
rücksichtslos, wie sie gekommen war, den Weg durch die Menge
der Schaulustigen, die auch, nachdem der Tote längst im
Zinksarg lag, immer noch auf den alten Citroën glotzten. Heute
Abend konnten die beiden Polizisten nicht mehr viel tun.
    »Ist ein
Scheiß-Feierabend«, fluchte Gröber, während
er zum Funkgerät griff, um die Leitstelle zu bitten, nach
Anzeigen über verschwundene Citroëns zu suchen.
Außerdem sollten die Kollegen die Vermisstenanzeigen
durchsehen: »Ein Mann, vermutlich Deutscher, Ende
dreißig, schwarze Haare, graue Schläfen, etwa 1,85
groß und ein Loch im Hals, schaut mal nach, ob ihr was im
Computer habt.«
    »Bekommen wir
das Foto des Toten noch in die Zeitungen?«, fragte
Remmer.
    »Ist schon
veranlasst. Die Pressestelle kümmert sich drum«,
antwortete der Kollege in der Leitstelle.

4
    Lauf, mein Lieber,
lauf. Du bist stark, du bist groß, du bist schnell. Ingo
Gassmann feuerte sich selbst an, das Tempo ein bisschen anzuziehen.
Er war in großartiger Verfassung. Die Schritte flüssig,
nicht zu groß, das Kinn hoch, die Luft zerschneidend, die
Augen geradeaus, Oberkörper aufrecht, nur leicht geneigt, die
Schultern entspannt und ruhig, das Becken leicht nach vorne
gekippt. Die ideale Linie, der ultimative Tanz auf den
Zehenspitzen.
    Die Arme, nicht der
Oberkörper, schwangen mit, zügig und parallel zum
Körper. Sie pumpten die Kraft in den Körper, die
Ellebogen im rechten Winkel, die Hände locker. Jeder Moment
seiner Bewegung eine Vorlage für die Studie eines nach
Perfektion suchenden Bildhauers. Er bog in die Kleingartenkolonie
ein.          
    »Hier, ihr
schlaffen Säcke zwischen Tomaten und Stangengurken, seht
her«, rief er so laut, dass ihn die Kleingärtner
hören konnten. »Was macht ihr mit eurem kleinen
Leben?«
    Er fühlte sich
gut, wie lange nicht. Er begann zu schweben, vorbei an
Gartenzwergen und kleinen Gewächshäuschen. Ein
Wohlgefühl, das Flügel verlieh. Er gewann Abstand, ein
kleines bisschen Abstand zwischen dem
vorantreibenden Körper und der Welt, von der er abhob. Indem
sich sein Blick auf ein Paar Füße verengte, eine
Baumreihe oder einen markanten Punkt in der Ferne, weitete er sich
gleichzeitig.
    Wenn er lang genug
unterwegs war, wurde das Denken assoziativer. Ihm kamen
Einfälle, ganz plötzlich ohne Mühe,
überraschende Sichtweisen auf das große Ganze. Weil
Blut- und Sauerstoffzufuhr zunahmen, wuchs die
Aufnahmefähigkeit. Der Kopf wurde klar. Unterstützt
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher