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Marathon

Marathon

Titel: Marathon
Autoren: Helmut Frangenberg
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vom
Gleichmaß der Bewegung.
    Während andere
die Grillkohle vorbereiteten oder ihr akkurat in den Rasen
gefrästes Blumenbeet begossen, fand er die Entspannung bei
seinen Läufen durch die Stadt.
    Es war ihm ein
Rätsel, wie die Menschen, an denen er vorbeilief, jeden Morgen
aufstehen und den immer gleichen Tag beginnen konnten. Woher holt
man die Kraft, das erneut zu tun, was man gestern, vorgestern und
an unzählbar vielen Tagen zuvor bereits getan hat? All die
Dinge, die man versucht, besser zu machen, um sie endlich besser
ertragen zu können. All diese dumpfen, sinnlosen
Unternehmungen, all diese dämlichen guten Vorsätze, die
doch nicht dabei helfen, aus dieser niederschmetternden Ohnmacht
herauszukommen.
    »Er hat sich
bemüht«, würde es in den Zeugnissen dieser
Schrebergärtner heißen.
    Und in meinem?, fragte
er sich. Ja, ich bemühe mich. Jeden Tag bemühe ich mich.
Verdrängen, neu anfangen, wieder scheitern, überlegen,
verdrängen, neu anfangen, wieder scheitern … Dieses
»Sichbemühen«, ohne dass es wirklich zu etwas
führte. Bestenfalls war es dazu gut, genau das zu erkennen.
Schicksal, du bist unbezwingbar. Du wirfst mich jeden Morgen wieder
aufs Neue in den Dreck, lässt mich aufstehen, vergessen, neu
anfangen, wieder scheitern …
    Vielleicht wurde alles
so deutlich, weil er dieser magischen Vierzig so nah war, diesem
endgültigen Ende der Zeit, in der man Neues beginnt. Mit
vierzig Jahren begann der Lebensrest, in dem man nur noch die
Wiederholungen ertragen sollte. Kein Vorrat mehr an Über- und
Wagemut. Nichts mehr da an Leichtsinn.
    Stattdessen
näherte er sich immer mehr den Gewissheiten des Lebens, der
Wahrheit. Der letzte Tanz wird zum Todeskampf. Die Wahrheit ist der
Tod. Wer das nicht ertragen kann, muss sterben. Doch wer kann das
schon.
    Da hält man
lieber fest an diesen Nichtigkeiten, den Gartenzwergen und
Stangenbohnen, den Grillwürsten und Fußballabenden, dem
Lebensglück auf zweihundert Quadratmetern
Kleingarten.
    Weil auch er lange zu
denen gehörte, die den Tod als schreckliches Ende
fürchteten, hatte er sich angelogen. Hier eine kleine
Notlüge, da eine Ersatzbefriedigung, mal eine Flucht auf Zeit,
die zur Perfektion gebrachte Kunst des Verdrängens.
    Das war das
Schöne am Laufen: Er brauchte keine Stunde, und von all diesen
kleinen und großen Lügen und Ausflüchten blieb eine
einzige gleichmäßige Körperbewegung, mit der er
diese elende Bedürftigkeit, diese Ausweglosigkeit loswerden
konnte. Zumindest für eine kurze Zeit des Tages konnte er
alles hinter sich lassen. Ein bisschen Seelenfrieden vor dem
Schlafengehen.
    Verdrängen, neu
anfangen … 
    Als er aus der
Kleingartenkolonie in die Grünanlage abbog, holte ihn ein
wunderbarer Gedanke ein. Nackt müsste man diese Runde mal
laufen. Er stellte sich vor, wie sein Schwanz zwischen den Beinen
schlackerte, während den Kleingärtnern vor Entsetzen
Rechen oder Würstchenwender aus der Hand fallen würden.
Irgendwann müsste er sich das mal trauen. Ein Mal. So zu
laufen wie die alten Griechen. Das musste schließlich einen
Grund gehabt haben, warum die ohne Hose durch das Stadion gerannt
waren. Das Gefühl von Freiheit, das er sich hier zwischen
Neuehrenfeld und Bilderstöckchen erlief, würde
vollkommen, wenn er es einmal nackt erleben könnte.

5
    Bernd Gröber
ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen, stellte die
Plastiktüte mit zwei Litern Milch und Eiern in die Ecke und
schmiss seinen Mantel auf den Haufen mit Jacken und
Pullovern unter
dem herausgerissenen Dübel, in dem bis vor zehn Tagen ein
Garderobenhaken festgeschraubt gewesen war. Der lag jetzt irgendwo
unter diesem Kleiderhaufen im Flur der Altbauwohnung, aus der man
so viel machen könnte, wenn man nur wollte. Das zu wissen,
reichte ihm. Der Elan, endlich mal mit frischer Farbe und ein paar
Investitionen in neue Möbel gestalterisch tätig zu
werden, war ihm schon nach den drei Tagen des Einräumens und
Sortierens seines alten Krams abhanden gekommen, als er vor
anderthalb Jahren hier eingezogen war. Er hätte nicht sagen
können, ob ihm das Chaos gefiel, in dem er hier lebte. Und
wenn er mal wieder an einem der seltenen Abende, an denen sich
jemand für einen Besuch angemeldet hatte, all seine Klamotten,
die in den drei Zimmern dieser Wohnung herumflogen, auf sein Bett
geschaufelt hatte, damit der Besuch keinen allzu schlechten
Eindruck von ihm bekam, nahm er sich vor, an dieser Wohnsituation
etwas zu ändern. Doch wofür? Oder besser:
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