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Marathon

Marathon

Titel: Marathon
Autoren: Helmut Frangenberg
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aller
Gäste für seine Vorliebe beschimpfen, möglichst
viele Autofahrer von möglichst allen Polizisten dieser Stadt
nach ihren Papieren fragen zu lassen, ihn anschließend zu
verprügeln und dann selbst aus dem Fenster zu springen. Das
Beste war, dass sich sein Chef immer neue wundersame Namen für
den verordneten Aktionismus einfallen ließ: Wintercheck,
Frühlingszauber, Sommerbrise … Dafür hätte er
auch noch einen kräftigen Tritt
verdient.          
    Keine besonders
pfiffige Idee. Und außerdem: Trotz des ganzen Selbstmitleids,
zum Abtreten fand er sich doch noch zu jung.
    Vorläufig
entschied er sich erst einmal dazu, den Fernseher auszulassen und
noch einmal aufzustehen. Er wollte etwas Gutes tun und sich
dafür engagieren, dass sich sein Wirt weiter selbst
ernähren konnte. Dazu musste er ihm nur ein paar Bier und eine
der selbst gemachten Frikadellen, die unter einer
Plastik-Kuchenhaube dem Ende des Tages entgegenschwitzten,
abkaufen. So einfach konnte das Leben sein. Über dessen
tieferen Sinn wollte er am Tresen weiter nachdenken.
    Anderthalb Stunden und
zehn Bier später, also ungefähr zu dem Zeitpunkt, wo man
sich fühlt, als säße man mitten in einer riesigen
Schaumkrone, durch die alle Neben- und Hintergrundgeräusche
einer Kneipe nur noch aus der Ferne wahrnehmbar sind, sortierte er
seine Gedanken so, dass man aus ihnen praktische
Handlungsanweisungen ableiten konnte. Er wusste, was ihn nervte:
diese andauernde Trägheit, dieses immer Gleiche und diese
Kraftlosigkeit, die verhinderte, sich gegen das Immergleiche
aufzulehnen.
    »Man muss sich
Ziele setzen«, flüsterte er seiner Kölschstange zu.
»Und dann konsequent darauf hinarbeiten. Wie ein
Marathonläufer.«
    Er merkte, dass er
sich diesem folgenreichen Point of no Return näherte. Noch
ein, zwei Biere, und es würde um ihn geschehen sein. Dann
würde er hier versacken, bis der Wirt ihn vor die Tür
setzen würde. Er würde sich fürchterlich
ärgern, weil er wieder den Arsch nicht hochbekommen hatte und
zu Hause ein fetter Kater auf ihn wartete, der ihm das Leben morgen
im Büro zur Hölle machen würde. Also schnell noch
die Phase der Kreativität nutzen. Pläne machen für
die nächsten Tage, Jahre, den Rest seines Lebens. Er liebte
diesen einzigartigen Moment, den man nur spätabends an einem
Kneipentresen erleben konnte. Immer wieder nahm er sich vor, ein
kleines Schreibheft und einen Kuli mit in die Kneipe zu nehmen, um
aufzuschreiben, was ihm durch den Kopf ging. Es war einfach
jammerschade, immer alles zu vergessen.
    Fast so schade, wie
durch einen heftigen Schlag zwischen die Schulterblätter von
der Suche nach dem Sinn des Lebens wieder in den tristen Alltag
zurückgeholt zu werden.
    »Hallo, Bernd,
was läuft?«, drang es aus der Ferne zu ihm. Hinter ihm
stand der griese Rainer, sein sechsunddreißigjähri-ger
Nachbar mit den mittlerweile fast völlig weißen Haaren.
Gröber schickte seine Gegenfrage »Was willst du,
Rainer?« auf die lange Reise durch die ihn umgebende dicke
Schaumkrone. Seine Stimme kam ihm so leise vor wie alles, was er um
sich herum hörte.
    »Kein Grund,
mich anzubrüllen«, meinte der griese Rainer.
»Sonst hole ich die Polizei.«
    Er lachte gern
über seine eigenen Witze und waren sie auch noch so schlecht.
Gröber mochte ihn trotz der Witze. Er hatte ihm sogar schon
einmal das Leben gerettet. Damals, als sich Rainer sternhagelvoll
im Klo eingeschlossen und seinen Kopf immer wieder mit aller Gewalt
gegen den Spiegel überm Waschbecken geknallt hatte, weil ihn
seine damalige Flamme wegen eines anderen verlassen hatte.
Gröber, nicht minder alkoholisiert, hatte die Klotür
eingetreten und den blutüberströmten Kopf seines Nachbarn
aus den spitzen Scherben des Spiegels gezogen, der zersprungen von
der Wand baumelte.
    Rainer bestellte zwei
Bier und setzte sich neben ihn an den Tresen.
    »Ich habe keine
Zeit«, versuchte Gröber dem gut gelaunten Mann klar zu
machen, der ihn verständnislos ansah.
    »Mir scheint,
als hätte ich ein paar Bier aufzuholen, mein Freund«,
sagte Rainer und kippte gleich beide Kölsch auf ex.
    Gröber ignorierte
ihn.
    »Gib mir mal
einen Stift, bitte«, rief er seinem Wirt zu, der ihm wortlos
einen Bleistift neben sein Glas legte.
    »Aufstehen.
Kämpfen«, schrieb er die Notiz gegen das Vergessen auf
den Bierdeckel. Aber wogegen? Seinen Chef, die Ausbeutung Afrikas,
die Sparmaßnahmen in der Jugendpolitik, den Alltagstrott?
»Genau. Gegen die Trägheit.«
    Was Gröber
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