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Marathon

Marathon

Titel: Marathon
Autoren: Helmut Frangenberg
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Schwäche, die
er spürte, seitdem er sich auf sein Bett gelegt hatte, hatte
sich mittlerweile in eine Art Schwerelosigkeit verwandelt. Er
fühlte sich so leicht, dass es ihn nicht überrascht
hätte, wenn sich sein Körper einige Zentimeter vom Bett
erhoben hätte. Flugbettgeflüster. Indem er nach dem
Bettlaken tastete, vergewisserte er sich, dass er immer noch den
normalen Gesetzen der Schwerkraft unterworfen war. In der Ferne
pulsierte das Leben. Er hörte junge Leute grölen,
irgendwo fuhr eine Straßenbahn. Autos hupten, und aus einer
Gaststätte ertönten immer dann Musikfetzen, wenn jemand
die Eingangstür öffnete. Klangpuzzles.
    Im schummerigen,
unwirklichen Licht dieser Nacht entdeckte er eine Fliege, die an
der gegenüberliegenden Wand rauf- und runterlief. Endlich
hatte er etwas gefunden, an dem er hängen bleiben konnte.
Insektenfreund.
    »Weißt du,
was du tust, Fliege?«, fragte er das Insekt. »Bist du
glücklich mit dem, was du tust?«
    Wie einfach konnte das
Leben sein. Einfach herumkrabbeln, ab und zu etwas essen, ein
bisschen herumfliegen. Da konnte man richtig neidisch werden. Er
überlegte, wie es wäre, wenn man sein Leben nur noch auf
das Nötigste reduzierte. Einfach im Bett liegen bleiben, ab
und zu etwas essen, bei einem Bringdienst bestellen und nichts mehr
sagen, außer den wenigen Worten, die nötig waren, um die
Essensbestellung aufzugeben. Doch der Mensch muss immerzu denken, sich
mit Gedanken quälen, sinnierte er. Selbst wenn er sich
hemmungslos betäuben würde, könnte er höchstens
kurzfristig die Qualen lindern. Irgendwann würde der Kater
kommen und ihn wieder zur Hölle schicken.
    Es war
überraschend einfach gewesen. Genauso, wie er es sich
vorgestellt hatte. Vosskamp hatte sich genau wie er ins Schicksal
ergeben. Ja, es war Schicksal. Es musste so kommen. Unausweichlich.
Es schien fast, als wenn Vosskamp all die Jahre auf ihn gewartet
hätte. Erlösungsphantasien. Wie ein Film liefen noch
einmal die Szenen aus Vosskamps Wohnung an ihm vorbei. Er konnte
sich nicht dagegen wehren.
    »Hallo, mein
Freund.« Mit knappen Worten hatte er Vosskamp
begrüßt, worauf der ihn eine lange Minute sprachlos
angesehen hatte, so als wenn er sich nur mit Mühe an ihn
erinnern könnte. Dann hatte er genickt und ihn wortlos
hereingebeten, sich auf sein schickes Sofa gesetzt und ihm einen
Sitzplatz angeboten.
    »Ich sehe, es
geht dir gut«, hatte er gesagt.
    Er stellte sich vor,
wie Polizisten die Leiche im Kofferraum inspizierten und wie
überrascht sie dreinschauen würden, wenn sie Vosskamps
Wohnung durchsuchten. Polizistenüberraschung.
    »Oh, diesmal
werden sie richtig arbeiten müssen«, ließ er die
Fliege an seiner Freude teilhaben. Er hatte ihnen etwas zum
Nachdenken gegeben. Und noch bevor sie sich irgendetwas mit Sinn
zusammengereimt hatten, würde er ihnen schon die nächste
Aufgabe gestellt haben.
    »Lass Blut in
meinem Namen fließen. Stampf die Heiden nieder, sei auf
ihnen, o Krieger, ich werde dir von ihrem Fleisch zu essen
geben.« Er war überrascht darüber, die Verse immer
noch auswendig zu können. Hat man sich einmal mit etwas sehr
intensiv beschäftigen müssen, vergisst man es wohl nie.
All den Mist hatte er gelesen auf der Suche nach
Erklärungen.
    »Wer trauert,
gehört nicht zu uns«, brüllte er die Fliege
an.
    Für Vosskamp
hatte er einen anderen Satz aus der Erinnerung hervorgekramt, um
ihn ihm im Todeskampf ins Ohr zu flüstern: »Ich bin die
Schlange, die Wissen und Wonne gibt und strahlenden Glanz.«
Vosskamp hatte ihn mit großen Augen angestarrt und erfolglos
versucht zu verhindern, dass seine Pupillen unter den zitternden
Lidern verschwanden. Kurz vor seinem Tod war sein Atem schneller
geworden. Es schien ihm, als hätte Vosskamp noch etwas sagen
wollen, doch dazu hatte die Kraft nicht mehr gereicht. Während
der ganzen Zeit, die er in dieser schicken Wohnung verbrachte,
hatte Vosskamp nicht ein Wort mit ihm gesprochen.
    Er griff nach dem
Handtuch, das neben ihm auf dem Bett des kleinen Hotelzimmers
lag.
    »Es muss
weitergehen, die Zeit ist knapp, das Pensum hart«,
flüsterte er.
    Können Fliegen
gut hören? Können sie überhaupt hören?
»Warum weiß ich so etwas nicht?« Er knüllte
das Handtuch ohne hinzusehen zusammen, sodass er es wie einen Ball
packen konnte.
    »Es gibt kein
Zurück mehr.«
    Er ließ seinen
Arm nach vorne schnellen und warf das Handtuch auf die
gegenüberliegende Wand. Die Fliege fiel tot zu Boden. Er
musste zurück ins ungeliebte
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