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Mappa Mundi

Mappa Mundi

Titel: Mappa Mundi
Autoren: Justina Robson
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NP-Produktion leise mit der Arbeit einer langen Nachtschicht. Der Jasmingeruch stieg ihr zu Kopf. Die Sonne war vor zehn Minuten untergegangen. Das blaue Licht erinnerte sie an einen lange verstrichenen Tag, an dem sie durch einen Wald lief, und dann, gerade als sie glaubte, dass ihr etwas Wichtiges offenbart werden sollte, erstarb die Erinnerung.
    Sie stand auf und spazierte ein kleines Stück zwischen den Büschen. Die Sterne über ihr leuchteten so hell, so fern. Sie erkannte die Blauverschiebung des einen, der sich näherte, und die Rotverschiebung eines anderen, der sich entfernte. Noch einer Pflicht hatte sie sich zu entledigen. Konnte man in der Zeit zurückgehen, ohne sich aufzulösen? Natalie bezweifelte es. Wie sollte man in der Zeit zurückreisen und dabei sein bewusstes Gedächtnis behalten? Seine Existenz beruhte auf Entropie und Veränderung in einer linearen Zeitskala. Dennoch blieb das Dossier ein Rätsel – wie anders war es Jude in die Hände gelangt? Dann diese Sekunde im Labor, in der Ian ihr gegenüber anmerkte, es gäbe vielleicht einen Rückweg für ihn, einen Blick in die Vergangenheit, in der er noch ein Familienvater war – er hatte gedacht, vielleicht neu lernen zu können, wer er gewesen war, und sich selbst wieder zusammenzufügen. Diese Theorie hatte sie im Kopf gehabt, als sie versuchte, während der Durchdringung Judes eine Kopie von ihm anzufertigen. Doch wenn sie nun Informationen verlor wie ein Sieb, erging es ihm nicht anders; seine Daten mussten ebenso nutzlos werden wie die Disks.
    Natalie holte jene Disks aus der Tasche, die noch übrig waren, und schleuderte sie in die Dunkelheit davon. Auf der anderen Seite der Erde war Jude bereits gestorben. In Amerika brach gerade erst der Abend herein, und die Sonne sank, ohne dass er es sehen konnte. Dan war tot. Natalie hatte niemanden, zu dem sie zurückkehren wollte. Also, warum es nicht versuchen?
    Sie blickte zum Himmel. Über ihr hing der Vollmond, still, reglos, ruhig. Fledermäuse huschten in zierlichem Tanz über sein Antlitz, und sie hörte die Ultraschalllaute der Tiere, spürte, wie die Wellen ihr über die Haut strichen und sie orteten. Die Insekten, denen die Jagd der Fledermäuse galt, hingen ahnungslos zwischen ihnen in der Luft – Lebensstäubchen, die für Natalie wie winzige Funken aussahen und erloschen, als die Fledermäuse sie in ihre Sammlung aufnahmen, so einfach war das.
    Sie griff heraus, um sie wieder einzuschalten.
    Sich rückwärts durch die Zeit zu bewegen, bedeutet nur eins für ein Geschöpf, das Absichten und Handlungen allein in der Vorwärtsrichtung formulieren kann: Es muss sich vom Umkehrprozess isolieren. Man muss sich weiter in die eigene Zukunft bewegen, während man ringsum das Gewebe der Zeit zum Zustand der Vergangenheit auftrennt. Andernfalls trennt man nicht nur die Welt, sondern auch sich selbst auf, und weil auch das Begreifen ein fortlaufender Prozess ist, macht man es ebenfalls rückgängig. Man sieht keine Rückwärtsbewegung bei einem Film, den man von hinten nach vorn abspielt, denn selbst das kann man nur sehen, während die Zeit vorwärts läuft. Man ist vielleicht selbst schon eine Milliarde Mal zurückgespult worden, aber man kann es nicht wissen, weil unsere einspurige Existenz ein solches Konzept der Bewegung in der Zeit nicht gestattet. Man würde es nicht bemerken. Wie sollte man?
    Natalie war sich dessen bewusst, aber selbst mit der Einsicht in die Quantenebene, die Ian versprochen hatte, konnte sie nicht sagen, wie sie sich in einer vorwärts gerichteten Tasche isolieren sollte. Dass sich etwas auf einmal vorwärts und zugleich rückwärts durch die Zeit bewegen sollte, enthielt einen fatalen Widerspruch in sich. Sie selbst, in der Form, in der sie sich jetzt befand, konnte in überhaupt keine Vergangenheit reisen. Ian hatte ganz richtig gesagt, dass die Zeit grundsätzlich falsch verstanden werde. Zeit war ein Element des Raums und keine davon abgetrennte Erscheinung. In diesem Element schoben sich die drei Dimensionen der physischen Welt zusammen, und ihnen konnte Natalie nicht entkommen, wenn sie sie mitnahm, solange sie selbst dreidimensional blieb.
    Während sie sich weiter mit dem Problem auseinander setzte und die Insekten beobachtete, die Mücken und die Moskitos, die Käfer und Motten, schwerfällig in ihrem Flug, begann sie an ihnen vorbei zu den Sternen zu blicken. Die Rotverschobenen entfernten sich. Ihr Licht nahm eine größere Wellenlänge an, weil sie
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