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Mappa Mundi

Mappa Mundi

Titel: Mappa Mundi
Autoren: Justina Robson
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davonschossen, und dabei dehnte sich die Welle. Blauverschobene näherten sich, drückten die Wellenberge bei ihrer Annäherung zusammen. Wohin am Nachthimmel man auch blickte, man sah in die Vergangenheit, sogar wenn man den Mond betrachtete. Man sah den Mond, wo er vor über einer Sekunde gewesen war. Ein Stern, den man am Himmel sah, konnte schon erloschen sein. Das Licht in ihren Augen, das die Sternbilder ergab, war schon sehr alt, Millionen Jahre alt, und doch landete es hier, in ihrem Bewusstsein, zu einem einzigen, vereinigten Zeitpunkt. Und da begriff sie, wie sie einen Weg durch die Zeit zu planen hatte.
    Ein komplexes Wesen konnte das niemals schaffen. Informationen konnten vielleicht zurückreisen, und Information konnten, wenn man sie mit Hilfe einer Sequenz von Anweisungen kombinierte – durch ein zum richtigen Zeitpunkt aktiviertes Programm –, ein Trugbild von Natalie Armstrong erstellen, das einige wenige wichtige Dinge verrichtete, bevor es wieder zerfiel. Das Rätsel, das sie auf die Rückseite des Guskow-Dossiers gekritzelt hatte, lag nun offenbar vor ihr: ein Diagramm von Elementarteilchen, die gegen den Strom durch den dreidimensionalen Raum reisten. So, wie sie über gewaltige Abstände verschränkt sein konnten und augenblicklich auf Zustandsänderungen des anderen reagierten, konnten Elementarteilchen auch durch die Zeit verknüpft sein. Sie brauchte diese verschränkten Paare nicht in einem bestimmten Moment zusammenzubringen, um ihre Bindung herzustellen. Die Bindung erstreckte sich ebenso in die Vergangenheit, wie sie auch in die Zukunft anhielt.
    Kaum hatte sie sich das vorgestellt, als ihr etwas ins Bewusstsein trat, das wie eine Erinnerung erschien, die bis gerade eben noch nicht existiert hatte und dennoch ihr gehörte.
    Es war Wochen her. Sie war in Washington, in dem verschlossenen Raum, in dem Mary Delaneys Chefin, Rebecca Dix, ihre Privatakten aufbewahrte. Sie griff in eine Schublade und zog Michail Guskows Dossier heraus. Rasch vergewisserte sie sich, dass sie hatte, was sie wollte, dann durchdrang sie die Wand zum Vorzimmer, in dem es zu dieser Abendstunde still war. Mit einem Bleistift vom Schreibtisch der Sekretärin schrieb sie das Datum auf die Rückseite und skizzierte dann hastig gerade genug, um später ihrem eigenen Gedächtnis nachzuhelfen. All das fand in einer Art distanziertem Geisteszustand statt, in dem sie nicht ganz gegenwärtig war, sondern vage träumte.
    Sie kodierte den Aktendeckel als Information und restrukturierte ihn in der Yorker Pension. Jude schlief auf der geblümten Tagesdecke, unempfindlich wie ein Bleiklotz. Sie wollte ihn nicht wecken, denn was hätte sie sagen können? Sie legte den Aktendeckel, der durch seine Reise nur ein klein wenig beschädigt war, hinter ihn, doch dann, in einem Moment der Schwäche und des Blicks zurück, den sie sich in Virginia versagt hatte, streckte sie die Hand aus und berührte ihn ein letztes Mal.
    Jude, in seinem unbefleckten Zustand, bevor er irgendetwas wusste von dem, was kommen würde, wachte auf.
    »Es tut mir Leid«, sagte sie, nicht nur zu ihm, sondern auch zu sich in der Zukunft. »Es tut mir sehr Leid.«
    Es war ein Abschied, ehe es auch nur eine Begrüßung gegeben hatte.
     
    In der atmenden, belebten Dunkelheit der Teeplantage in Kerala zerstoben die körperlichen Überreste von Natalie Armstrong. Für einen Augenblick tanzten sie wie Mottenstaub im Mondlicht, dann waren sie verschwunden.
     
    Mary Delaney, noch immer wund von den Operationen, den rechten Arm in Gips und an der Seite fixiert – wo er ironischerweise die Rippe schützte, die zerschmettert worden war und Knochensplitter in jeden einzelnen Muskel ihres Oberkörpers getrieben hatte –, empfand einen Triumph, der grimmiger war als der Gesichtsausdruck irgendeines der großen alten Unruhestifter der Welt, die alle eine teuflische Befriedigung dabei empfunden hatten, junge Männer im Namen der Freiheit in den Tod zu schicken.
    Oberflächlich sah sie sehr gut aus. Die Micromedica-Technik vollbrachte wahre Wunder. Bei der nanochirurgischen Sanierung waren sogar die Schäden beseitigt worden, die das rasante Leben und der Stress ihr zugefügt hatten. Sie fühlte sich stärker und tatkräftiger denn je, doch all das wurde ihr vom Fehlen dessen verdorben, was Judes Kugel in ihr zerstört hatte: der Fähigkeit, Freude zu empfinden.
    Im Oval Office des Weißen Hauses saß sie auf ihrem Platz neben Dix und sah zu, wie sich der Präsident und seine
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