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Mappa Mundi

Mappa Mundi

Titel: Mappa Mundi
Autoren: Justina Robson
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sein Herz verneinte, sie sei fort; in ihm breiteten sich eine Betäubung und eine Bescheidenheit aus, die ihm wie ein Zusammenbruch erschienen. Vor seinem Optimismus und seiner Zukunftsorientierung waren die Türen geschlossen, versperrt, die Schüssel in einem grauen Meer versunken, von dessen Wellen jede so leer war wie die vorherige.
    Jude dachte über sein Leben nach, und von allem war ihm am wichtigsten, dass es irgendeinen tieferen Sinn hatte wie eine gut erzählte Geschichte. Bis zu diesem Punkt schien ihm ein roter Faden zu fehlen, und jetzt, in den letzten Stunden, bekümmerte es ihn, wie Natalie ihm vorhergesagt hatte, als gäbe es zu viel, das er nie getan und nie bedacht hatte. White Horse war jenseits aller Wiedergutmachung. Auch sein Vater war nur eine Fußnote, ein Mysterium, auf die Seite geschoben wegen einer ewigen Verabredung mit der Geschichte, zu der es nie kommen würde. Seine Mutter – wenigstens bei ihr hatte er keine unbeglichenen Schulden. Würde sie erfahren, was mit ihm geschehen war? Schickte die Regierung jemanden zu ihr, oder würde sie in der Zeitung lesen, er wäre Opfer eines Unfalls geworden? Welche Geschichte würde Mary sich ausdenken? Vielleicht fuhr sie in ihrer grauen Limousine nach Seattle, klopfte in ihrem schwarzen Kostüm an die Haustür und sagte: »Miss Westhorpe, es erfüllt uns mit großer Trauer …« Nein. Wenigstens dieses Problem gedachte er auf eine Weise abzuschließen, dass er zufrieden damit sterben konnte. Vor seiner Entschlossenheit verblasste das Elend, das die Symptome in seinem Kopf und seinem Leib erzeugten. Die Sache mit Mary würde er bis ans Ende austragen. Mary war der Dreh- und Angelpunkt des einen Schicksalsfadens, den er noch in der Hand hielt.
    Zwar kam ihm der Gedanke, er verhalte sich dumm und melodramatisch; andererseits hatte er kein dramatisches Ende erwartet. Aber wenn es darauf hinauslief, wollte er es nicht vergeuden. Kurz gingen ihm die fünfzig Minuten Frist durch den Kopf, die Natalie ihm versprochen hatte, doch selbst wenn das stimmte, bezweifelte er, ob er noch länger durchhalten könnte, von Marburg ganz abgesehen. Es war tapfer, was er plante, eine heroische Geste angesichts eines unerbittlichen Schicksals, aber eben nur eine Geste mit Auswirkungen von der Dauerhaftigkeit eines Fingerschnipsens.
    Guskow ergab sich als Erster.
    Jude wartete, bis er den oberen Ausgang verlassen hatte. Er zählte die Minuten ab, die Mary in der Liste ihrer Forderungen vorgeschrieben hatte, und lauschte auf das Husten, das Niesen und das hoffnungslose Schweigen der Wissenschaftler, während sie darauf warteten, dass sie an der Reihe waren. Statt dass Natalie allein herauskam, gingen alle zusammen. Jude stand vorn und führte sie hinaus. Durch tränende Augen sah er die Reihen der Soldaten in Bio-Schutzanzügen, die mit schussbereiten Waffen die Lifttür flankierten. Er hatte jedoch keine Zeit für sie, denn Mary stand persönlich auf der Zufahrt im Sonnenschein; er erkannte sie an ihrer schlanken Gestalt, weil sie das grüne Koppel des Anzugs fest um die Taille zugezogen hatte, und hinter der polierten Helmscheibe hob sich blass ihr Gesicht ab. Um die Augenpartie und den Mund war das Gesicht in Schatten getaucht, sodass es aussah, als halte ihr Totenschädel nach ihm Ausschau.
    Die Soldaten reagierten nicht einmal mit einem Muskelzucken auf die Abweichung vom Plan, doch Mary schritt nach einem unentschlossenen Moment auf Jude zu. Von Guskow fehlte jede Spur, obwohl in den Laborlastwagen, die am Haus parkten, irgendetwas vorzugehen schien; auf ihrem Tarnanstrich lagen die ersten gelben Blätter, die Vorboten des Frühlings.
    Jude zwang sich, aufrecht zu stehen, obwohl Brust und Kehle sich anfühlten, als würde jemand rot glühende Schürhaken darin umdrehen. Er blickte Mary durch die Spiegelbilder von Bäumen und dem Himmel auf dem Helmglas in die blauen Augen, die trotz allem, was hinter ihnen vorging, noch immer hübsch waren. Der Moment schien ihm lange anzuhalten. Er roch die feuchte Erde und spürte die Wärme der untergehenden Sonne; beide versprachen eine verregnete Nacht, wuchernde Pilze, fallende Blätter, den Beginn von Fäulnis und Eiterung. In ihrem Gesicht erkannte er ihre verletzten Gefühle, tief unter der Oberfläche; es war, als blickte man in einen tiefen Teich auf den schlammigen Grund und sähe, wie ein uralter Fisch die Flossen schüttelt. Sie betrachtete ihn mit Liebe, einer Liebe jedoch, die so lange unterdrückt worden war, dass
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