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Mantelkinder

Mantelkinder

Titel: Mantelkinder
Autoren: Anna Geller
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sich Sorgen machte. Vielleicht ahnte er, dass es zu spät war, von Anfang an zu spät gewesen war. Sie erinnerte sich plötzlich an so manche Geschichte, die sich um Maurer rankte, an spektakuläre Fälle und Einsätze. Und immer war dabei die Rede von der sagenhaften Intuition dieses Mannes gewesen. Wenn seine Intuition auch diesmal stimmte …
    „Du studierst doch immer die Statistiken“, sagte sie leise zu Hellwein, während sie zum Ausgang der Kantine gingen. „Wie stehen die Chancen?“
    „Willst du Zahlen oder den hier?“ Er hob die rechte Hand und winkelte vier Finger so ab, dass nur der kleine Finger wie ein Ausrufezeichen aufrecht stand.
    „Erst die Zahlen“, verlangte Susanne ungerührt.
    „Also, pass auf.“ Mit einem Mal schien er in seinem Element. „Im letzten Jahr sind in Deutschland insgesamt etwas mehr als fünfzehntausend Kinder unter vierzehn Jahren als vermisst gemeldet worden. Der weitaus größte Teil hatte sich nach ein paar Stunden erledigt oder stellte sich als Missverständnis heraus. Aber es sind hundertsiebzig dauerhaft verschwunden. Zehn dieser hundertsiebzig Kinder fielen einem Sexualverbrechen zum Opfer. Der Rest teilt sich auf: Etwa die Hälfte stammt aus zerrütteten Familien und lungert nun auf der Straße herum. Die andere Hälfte sind Flüchtlingskinder, die nach der Einreise spurlos verschwinden. Das sind die, die dir später das Portemonnaie aus der Handtasche ziehen. Also, ich würde mal sagen …“
    „Heinz!“, unterbrach Susanne ihn scharf. „Du redest von Kindern, die mindestens zehn sind, wenn sie auf der Straße landen. Claudia kommt aus einer ganz normalen Familie und sie ist sechs!“
    Hellwein schluckte. „Natürlich, hast ja Recht“, murmelte er. Dann straffte er sich und sah ihr direkt in die Augen. „In dem Fall … in dem Fall … Es gibt eine interne BKA-Statistik. Darin geht man von achtundvierzig Stunden aus. Ob nun Unfall oder Verbrechen. Wenn ein sechsjähriges Kind mit diesem Familienhintergrund nach achtundvierzig Stunden nicht wieder zuhause ist, ist es statistisch gesehen tot.“
    Er kaute nervös auf seiner Unterlippe, als sie am Ausgang der Kantine ein Foto von Claudia und die Personenbeschreibung entgegennahmen.
    „Sie ist hübsch, nicht?“, nuschelte er und starrte auf das Bild. Es war das Gleiche, das vorhin als Großaufnahme an der Leinwand gestanden hatte.
    Susanne ahnte, wie mies er sich fühlte. Mindestens so mies wie sie selbst, wie alle anderen Kollegen. Beinahe jeder von ihnen hatte eigene Kinder, Nichten, Neffen, Patenkinder in dem Alter, die älteren Beamten schon Enkel. Und jedem von ihnen war bewusst, dass die größtmögliche Katastrophe über die Seibolds hereinbrechen würde, wenn sie Claudia nicht lebend wiederfanden.
     
    Susanne und Hellwein kamen gerade noch rechtzeitig zur erneuten Lagebesprechung um 20 Uhr.
    Ihr Tag war genauso abgelaufen, wie Susanne befürchtet hatte. Nicht eine einzige Vernehmung konnten sie routinemäßig durchführen. Alle Eltern waren verängstigt und bombardierten sie mit Fragen, wie: „Haben Sie eine Spur von Claudia? Warum greift der Gesetzgeber bei Sexualstraftätern nicht härter durch? Wie kann ich mein Kind schützen?“
    Natürlich gab Susanne die üblichen Ratschläge. „Treffen Sie Absprachen. Machen Sie Uhrzeiten aus. Lassen Sie das Kind nicht die Wohnungstür öffnen, wenn es klingelt und das Kind allein ist. Statten Sie Ihre Tochter mit einem kindgerechten Handy aus, damit die Polizei es notfalls orten kann.“ Aber sie wusste auch, wie unzulänglich diese Tipps waren. Wenn man sein Kind auf dem Spielplatz wähnte und es auf dem Weg dorthin seinem Peiniger begegnete, nützte die beste Absprache nichts. Handys konnten ausgeschaltet werden und waren dann von der besten Technik nicht mehr aufzufinden.
    Während sie also versuchte, die Eltern zu beruhigen, bemühte sich Hellwein, brauchbare Aussagen von den sechs-oder siebenjährigen Kindern zu bekommen. Er war dafür weitaus besser geeignet als Susanne. Allein das Aussehen des gutmütigen Onkels schaffte sofort Vertrauen. Wenn er sich auch noch mit den Kleinen auf den Boden legte und ein paar Legos zu einem Polizeiwagen zusammenbaute, war jedes Eis gebrochen. Wie beiläufig stellte er dabei seine Fragen und erhielt bereitwillig Antwort.
    Susanne kam nicht umhin, sein Einfühlungsvermögen zu bewundern — und sein Geschick, mit Legosteinen umzugehen.
    Als sie ihn danach fragte, sagte er grinsend: „In meinem ersten Leben war ich
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