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Mantelkinder

Mantelkinder

Titel: Mantelkinder
Autoren: Anna Geller
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alles was Beine hat.“
    „Wie alt?“, fragte Susanne.
    „Sechs.“
    „Oh Scheiße“, murmelte Hellwein und schluckte im letzten Moment jeden anderen Kommentar hinunter. In der typischen Art der Todesermittler vermutete er gleich das Schlimmste. Susanne hatte Recht, erkannte er jetzt. Das gute Gefühl, ein Verbrechen verhindert zu haben, stellte sich in ihrem Dezernat höchst selten ein.
    „Unterstützen Sie bitte zunächst die Kollegen, die die Bahntrasse am Südbahnhof absuchen“, sagte Steffens und stemmte die feisten Hände in die Hüften. „Die Kleine wohnt da in der Nähe. Nach Abschluss des Einsatzes hauen Sie sich aufs Ohr. Kann sein, dass wir ein heißes Wochenende vor uns haben.“
     

Samstag, 3. November
     
    In der Tiefgarage des Präsidiums gab es kaum noch einen Stellplatz, was tatsächlich auf ein heißes Wochenende hindeutete. Aber das war Susanne schon letzte Nacht klar gewesen. Bis zwei Uhr in der Früh hatten sie die Bahntrassen abgesucht, mit starken Lampen in jeden Winkel geleuchtet, hinter jedes Gebüsch, auf jeden Meter des Gleiskörpers. Immer mit dem beklemmenden Gefühl, dass ein Kind in den Lichtkegel geraten könnte — besser gesagt, das, was von einem Menschen übrig blieb, den ein ICE überrollte hatte.
    Mit der Order „Einsatzbesprechung um acht“ hatten sie die Suche schließlich abgebrochen, und Susanne war mit einem flauen Gefühl in der Magengegend nach Hause gefahren. Wenn eine Sechsjährige aus einem anscheinend intakten Elternhaus über Nacht verschwunden blieb, bedeutete das selten etwas Gutes.
    Natürlich, immer mal wieder verschwanden Kinder. Die Kleinen hatten mit ihrem Rädchen zum Opa, der in einer anderen Stadt lebte, fahren wollen. Oder sie verfolgten herrenlose Hunde, bis sie sich hoffnungslos verlaufen hatten. Andere gingen im Trubel des Schlussverkaufs einfach verloren. Oder sie legten sich zum Schlafen unters Bett und versetzten ihren Eltern den Schock ihres Lebens, wenn die morgens ein „leeres“ Kinderzimmer vorfanden und die Polizei eine Großfahndung auslöste.
    Es gab tausenderlei Unsinn, den sechsjährige Kinder anstellten. Aber die meisten dieser Abenteuer waren nur von kurzer Dauer. Claudia Seibold jedoch wurde seit mehr als sechzehn Stunden vermisst.
    Als Susanne ihren kleinen Polo in eine der wenigen noch freien Parkbuchten bugsierte, hätte sie mit dem Kotflügel beinahe einen Betonpfeiler mitgenommen und fluchte wie ein Kutscher. Solche Fahrfehler passierten ihr nur, wenn sie unausgeschlafen oder mürrisch war. Heute Morgen war sie beides. Und instinktiv wusste sie, dass noch viele Nächte mit zu wenig Schlaf folgen würden.
    Die Einsatzbesprechung fand in der Kantine statt, dem einzigen Raum, der genügend Platz für ein paar hundert Leute bot. In aller Eile hatte man Tische zusammengeschoben und lange Stuhlreihen aufgebaut. An der linken Stirnseite stand eine Leinwand. Als Susanne sich einen Platz suchte, hörte sie das leise Summen des Projektors, der im Moment nur grell-weißes Licht an die Wand warf.
    Eine Minute vor acht rutschte Hellwein etwas atemlos auf den freien Stuhl neben ihr. Er trug ein fliederfarbenes Hemd, einen anthrazitfarbenen Anzug, blitzblanke Schuhe und duftete nach Rasierwasser. Verdrießlich fragte sich Susanne, wie er es nach einem anstrengenden nächtlichen Einsatz schaffte, so auszusehen, als käme er frisch vom Laufsteg. Sie selbst hatte gerade mal die Kraft aufgebracht, zu duschen, die Unterwäsche zu wechseln und sich über das stumpfe, braune Haar zu bürsten. Die Energie, über ihre Kleidung nachzudenken, hatte sie nicht mehr. Also war sie in die ausgebeulte Jeans von gestern geschlüpft und in den grob gestrickten Baumwollpulli, der schon seit einer Woche über dem Stuhl in ihrem Schlafzimmer hing.
    Hans Maurer, der Kripochef, hatte die Einsatzleitung übernommen. Er war von imposanter Größe und Breite. Das dunkle Sakko spannte an den Schultern und sein weißes Haar kräuselte sich im Nacken.
    Mit eckigen Bewegungen ging er zum Projektor und eine Sekunde später erschien ein Bild auf der Leinwand. Susanne zuckte unwillkürlich zusammen.
    Alle Geräusche verstummten, als zweihundert Polizisten gebannt auf das Foto eines lachenden Kindes starrten. Hellblonde Korkenzieherlocken, volle Wangen, Grübchen neben den Mundwinkeln. Das helle Haar stand in auffallendem Kontrast zu den dunklen, fröhlich strahlenden Augen, die jeden im Raum direkt anzusehen schienen.
    „Großer Gott“, murmelte Susanne und spürte,
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