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Mantelkinder

Mantelkinder

Titel: Mantelkinder
Autoren: Anna Geller
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wie es ihr kalt über den Rücken lief. Das Mädchen wirkte zart und rein. Ein Engel, der versehentlich auf die Erde gefallen war. Ein Kind „zum Stehlen schön“, wie man so sagte. Susanne zog fröstelnd die Schultern hoch, als ihr plötzlich die Doppeldeutigkeit dieser Redensart bewusst wurde.
    „Für alle, die gestern noch nicht dabei waren“, begann Maurer mit voller Stimme, die mühelos auch den hinteren Teil der Kantine erreichte. „Claudia Seibold, sechs Jahre alt. Eltern: Wolfgang und Monika Seibold. Zwei Geschwister: zehn Jahre, Zwillinge. Die Familie wohnt Stauderstraße 12, direkt hinter dem Physikalischen Institut der Uni. Claudia besucht die 1. Klasse der Grundschule Berrenrather Straße. Der Unterricht endete gestern um 11 Uhr 45.“
    Maurer trug die Fakten routiniert und präzise vor, beschrieb die Kleidung des Mädchens, die möglichen Wege, die es eingeschlagen haben könnte. Claudia war nach der Schule mit ihrer Banknachbarin Anja Schmidt zu einem Kiosk im Weyertal gegangen, hatte Brausebonbons gekauft und sich dann von ihrer Freundin getrennt. Der Kioskbesitzer hatte ausgesagt, dass sie mit ihrem Roller wieder Richtung Berrenrather Straße davongefahren war, also durchaus ihren üblichen Heimweg aufgenommen haben könnte. Von diesem Augenblick an verlor sich bisher jede Spur.
    Die Eltern meldeten ihre Tochter um 15 Uhr 20 als vermisst, nachdem sie zuvor auf eigene Faust gesucht und Claudias Klassenkameraden angerufen hatten.
    Gegen 14 Uhr am vergangenen Nachmittag hatte ein Spaziergänger ein kleines Mädchen mit Rucksack und Roller am Ostasiatischen Museum gesehen, das etwa zehn Minuten Fußweg von Claudias Zuhause entfernt lag.
    „Ob das Claudia war, wissen wir nicht“, führte Maurer weiter aus. „Aber sie hat einen Rucksack getragen und am Morgen darauf bestanden, mit ihrem neuen Kickboard in die Schule zu fahren. Wir werden also im Laufe des Tages den Weiher neben dem Museum absuchen. Dabei haben wir die Unterstützung der Feuerwehr und des Technischen Hilfswerks. Den Kölner Verkehrsbetrieben, der Deutschen Bahn und der Bundespolizei liegen Personenbeschreibung und Fotos vor. Bisher haben wir da noch keine Rückmeldung. Ebenso war unsere Suchaktion gestern Abend und in der Nacht ergebnislos. Brauchbare Hinweise haben wir zurzeit nicht. Wir fangen also bei null an.“
    Wie immer ging Maurer pragmatisch vor, direkt und ohne ein Wort zu viel. Wenige Minuten später hatte er die Aufgaben verteilt. Es war die übliche Routine, wenn ein Kind unter vierzehn Jahren verschwand. Die uniformierten Hundertschaften sollten den so genannten „Inneren Grüngürtel“ durchkämmen, eine Grünfläche, die sich von der Universität bis zum Media-Park quer durch die Stadt zog. Unterstützung erhielten die Beamten von zwei Hundestaffeln und der berittenen Polizei.
    Mehrere besonders geschulte Kollegen würden sich um die Familie Seibold kümmern. Sie leisteten nicht nur seelischen Beistand, sondern schafften außerdem die technischen Voraussetzungen für eine Telefonüberwachung, denn auch eine Entführung war nicht völlig ausgeschlossen. Im Stillen dachte Susanne jedoch, dass man sich diesen Aufwand sparen konnte. Auf den ersten Blick waren die Seibolds eine ganz normale Familie mit drei Kindern und alles andere als wohlhabend oder prominent.
    Die Kripobeamten teilte Maurer in Zweiergruppen ein. Sie würden die Anwohner in der Stauderstraße und rund um die Schule befragen, ebenso die Mitschüler und deren Eltern. Jeder einschlägig Vorbestrafte in der Stadt musste überprüft werden. Und man würde sich darum kümmern, ob die Familienverhältnisse der Seibolds wirklich so intakt waren, wie es auf den ersten Blick schien. Da fünfundneunzig Prozent aller Kapitalverbrechen im sozialen Nahbereich geschahen, war das immer der erste Ermittlungsansatz der Polizei.
    Susanne und Hellwein gehörten zu der Gruppe, die die Klassenkameraden aufsuchen sollten und ihre Begeisterung hielt sich in Grenzen. Es war so ziemlich der undankbarste Teil der Ermittlung. Sie würden mehr Fragen von besorgten oder mitfühlenden Eltern beantworten müssen, als sie selbst stellen konnten, und wertvolle Zeit ging für beruhigende Worte und mehr oder weniger sinnvolle Ratschläge verloren.
    Vor zwölf Stunden wolltest du Prävention — jetzt hast du sie, dachte Susanne bitter, als Maurer gerade die nächste Einsatzbesprechung auf 20 Uhr festlegte.
    Er gab sich wie immer, aber sie sah ihrem zweithöchsten Vorgesetzten an, dass er
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