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Mantelkinder

Mantelkinder

Titel: Mantelkinder
Autoren: Anna Geller
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ein Achter.“
    „Ein was?“
    „Ein Achter. Lego-Jargon für eine bestimmte Steingröße. Hast du denn nie mit den Dingern gebaut?“ Er kratzte sich den schon kahl werdenden Schädel. „Stimmt, ihr Mädchen hattet es eher mit Barbies. Oder waren Legos zu deiner Kinderzeit noch gar nicht auf dem Markt? Du hast ja ein paar Jährchen mehr auf dem Buckel als ich.“
    „Danke für die Blumen!“, zischte sie. „Soll ich dir vielleicht ein paar Pampers anziehen, bevor wir weitermachen?“
    „Gibt´s die denn in Übergröße?“
    Susanne strafte ihn eine Weile mit Missachtung. Sie wusste selbst, dass sie fünfundvierzig wurde. Dazu brauchte sie seine Bemerkungen wirklich nicht. Sie wurde sowieso schon fast täglich daran erinnert: Die Lesebrille, die sie seit zwei Jahren tragen musste und ohne die sie nicht einmal mehr die Preisschildchen im Supermarkt erkennen konnte; das rechte Knie, das immer häufiger zwickte; und ihre Periode kam in letzter Zeit auch, wann sie wollte. Dabei war darauf immer hundertprozentig Verlass gewesen.
    Außer der Erkenntnis, dass Hellwein mit Legos umgehen konnte, waren sie keinen Schritt weitergekommen. Die Eltern beschrieben die Seibolds als intakte Familie mit einer gelassenen Mutter und einem hingebungsvollen Vater. Die Kinder sagten, Claudia sei wie immer gewesen und hätte mit keinem Wort erwähnt, ob sie für das Wochenende etwas Besonderes plante. Auch die anderen Ermittlungsgruppen standen mit leeren Händen da. Keine Spur in den Grünanlagen, und außer alten Autoreifen und rostigen Fahrrädern hatten die Taucher nichts aus dem Teich gefischt. Es gab keinerlei Anzeichen, dass es familiäre oder schulische Probleme gegeben hatte, die einer Sechsjährigen über den Kopf gewachsen sein könnten, und der Kioskbesitzer blieb bisher der letzte, der sich an sie erinnerte.
    Als Susanne todmüde und mit hämmernden Kopfschmerzen nach Hause fuhr, hatte sie nur einen Gedanken: Achtundvierzig Stunden.
     

Sonntag, 4. November
     
    Maurer hatte das Einsatzkommando noch einmal um fünfzig Leute aufgestockt. Rundfunk und Fernsehen sendeten jetzt Suchmeldungen und die lokale Presse würde am Montag einen großen Bericht bringen. Flugblätter waren im Druck und sollten in dem entsprechenden Stadtviertel verteilt werden. Die Befragungen wurden fortgeführt und die Suchmannschaften sollten sich jetzt auf den Stadtwald und den äußeren Grüngürtel konzentrieren.
    Die Luft in der Kantine war zum Schneiden dick. Trotzdem bekam Susanne eine Gänsehaut, als sie in all die ernsten Gesichter ihrer Kollegen blickte. In manchen Augen sah sie Hoffnungslosigkeit, in anderen eine tiefe Trauer.
    „Ich weiß, dass Sie alle müde sind“, schloss Maurer die Einsatzbesprechung ab, „und ich weiß auch, was Sie jetzt denken. Unsere Chancen, sie lebend zu finden, sinken von Stunde zu Stunde. Aber wir alle wissen, dass schon mehr als ein Kind plötzlich wieder aufgetaucht ist. Ich will damit sagen: Bleiben Sie zuversichtlich. Besonders den Eltern und der Öffentlichkeit gegenüber.“
    Die offizielle Formulierung, die die Polizei in solchen Fällen benutzte, schoss Susanne durch den Kopf. „Uns liegen keinerlei Hinweise auf einen Unfall oder ein Verbrechen vor.“
    Als sie mit Hellwein die Kantine verlassen wollte, rief Maurer sie zurück. „Frau Braun?“
    Er winkte sie heran und bedeutete auch Hellwein, näher zu kommen. Maurers Hemd war zerknittert, der Kragen durchgeschwitzt. Und seine geröteten, tief in den Höhlen liegenden Augen ließen darauf schließen, dass er letzte Nacht keine Sekunde geschlafen hatte.
    „Was denken Sie?“, fragte er, nachdem der Raum sich so gut wie geleert hatte.
    „Wollen Sie meine Zuversicht oder mein Gefühl?“, fragte Susanne barsch zurück. Sie stopfte die Hände in die Hosentaschen ihrer Jeans, der gleichen, die sie auch die Tage vorher schon getragen hatte. In dieser Haltung wirkten ihre knochigen Schultern noch kantiger.
    „Wir sind unter uns“, sagte Maurer nur.
    „Sie ist tot“, gab Susanne ohne Umschweife zurück. „Und sie ist sicher nicht irgendwo ins Wasser gefallen.“
    Der Kripochef nickte langsam. „Das sehe ich auch so. Also, für den Fall, dass Sie leider Recht hätten: Wir werden zusammen mit der Staatsanwaltschaft eine Sonderkommission bilden. Und ich möchte, dass Sie beide diese SOKO auf Polizeiebene leiten. Weisungsbefugt Ihnen gegenüber werden nur Oberstaatsanwältin Breitner und ich sein. Informationen Ihrerseits ohne Umwege an Breitner und
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