Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mantelkinder

Mantelkinder

Titel: Mantelkinder
Autoren: Anna Geller
Vom Netzwerk:
unter den Rumpf des Schleppers geriet. Sie spürte ihre Hände und den rechten Fuß kaum noch und merkte, dass ihre Bewegungen langsamer wurden. Die Kälte schien all ihre Kraftreserven zu verschlingen.
    Sie konnte das kleine Boot nicht sehen, aber vor sich — gefährlich nah — hörte sie das Stampfen des Schleppers. Sie bemühte sich, noch weiter nach links zu kommen. Trotzdem spürte sie den Sog, als das Schiff sie passierte.
    Sie wappnete sich gegen die Wogen, die jetzt kommen mussten. Dennoch schluckte sie eine gehörige Portion Rheinwasser, als die erste Welle sie traf. Es schmeckte modrig, nach altem Fisch. Sand knirschte zwischen ihren Zähnen.
    Beinahe gleichzeitig ertönte ein Schrei. Und dann sah sie das Boot, das heftig schlingerte. Plötzlich war sie unfähig, weiter zu schwimmen, starrte nur auf das unkontrollierte Schwanken des Bootes. Für einen Augenblick schien es, als verringere sich das Schaukeln, ehe es seitlich umschlug.
    Das brachte Karin wieder in Bewegung. Mit letzter Kraft schwamm sie auf den kieloben treibenden Kahn zu.
    Jetzt konnte es von Vorteil sein, dass Albertini sich flussaufwärts gewandt hatte. Das Boot und auch Dennis müssten eigentlich auf Karin zutreiben. Aber was trieb schneller? Eine Plastikwanne oder ein achtjähriges Kind? Musste sie vor oder hinter dem Rumpf suchen? Oder daneben? Und wo war Hellwein geblieben? Zu zweit hätten sie größere Chancen gehabt, den Jungen zu finden.
    Sie umrundete den Kahn. Ein Mal. Zwei Mal. War da ein Schatten? Sie griff danach, aber ihre tauben Finger trafen ins Leere. Sie packte wieder zu. Etwas schien ihr durch die Hand zu rutschen. Beim dritten Versuch bekam sie etwas zu fassen. Einen Arm oder ein Bein. Sie hielt eisern fest und zog den Körper näher. Er war klein und zierlich. Das Kind! Sie hatte das Kind! Trotz ihrer Erschöpfung ballte sie die Faust als Zeichen des Triumphs.
    Jetzt mussten sie schleunigst raus aus dem eisigen Wasser. Karin machte ein paar Stöße zu dem treibenden Boot zurück und klammerte sich an den glitschigen Kunststoff. Die Kraft, den Jungen oder sich selbst auf den Rumpf zu heben, hatte sie nicht mehr. Mit einer Hand klammerte sie sich fest, mit der anderen bemühte sie sich verzweifelt, den Kopf von Dennis über Wasser zu halten. Sie presste den reglosen Körper an sich und war plötzlich von entsetzlicher Angst erfüllt. Hielt sie ein totes Kind im Arm?
    Das taube Gefühl eisiger Kälte breitete sich über den ganzen Körper aus. Sie war zu Tode erschöpft, zu keiner Bewegung mehr fähig, dämmerte beinahe weg. „Nein, Berndorf, nicht schlafen“, flüsterte sie. „Nicht dämmern … hämmern … lämmern …“ Jemand reimte sinnlose Worte. So war das also, wenn man erfror.
    Irgendwo zuckte blaues Licht über das Wasser. Es tat in den Augen weh … Zeh … geh …
    Das Kind drohte, aus ihrem Arm zu rutschen, und das brachte sie zur Besinnung. „Reiß dich zusammen, Alte“, murmelte sie. Sie packte den kleinen Körper fester, während ihre Zähne klappernd aufeinander schlugen. Klappern … plappern …
    Sie schluckte erneut Wasser. Überall war Wasser, kaltes, schwarzes Wasser. Blaues Zucken. Blau … Rettung … Chris! Chris war Rettung! Wie ein Mantra wiederholte sie den Namen: „Chris, Chris, Chris …“ Das blaue Licht wurde stärker. Chris … blau … grau … flau … Chris …
    Mit einem heiseren Aufschrei warf sich von hinten etwas auf sie, schnürte ihr die Luft ab, versuchte, sie unter Wasser zu drücken. Karins Hand rutschte vom Bootsrumpf ab. Wasser schlug über ihrem Kopf zusammen. Der Junge! Sie durfte auf keinen Fall den Jungen loslassen! Mit dem linken Arm umklammerte sie seinen Brustkorb, mit dem anderen Arm schlug sie um sich, traf ein Körperteil. Das, was sie unter Wasser drückte, verlor an Kraft. Karin kam hoch, sah das verzerrte Gesicht einer Gestalt vor sich, die sich mit einem neuerlichen Schrei der Wut und der Verzweiflung auf sie stürzte. Der brennende Schmerz, den Karin auf ihrer Wange spürte, machte sie zornig. So zornig, dass sie vollends zu sich kam. Mit letzter Kraft ballte sie die Faust und drosch ihrem Gegenüber hart ins Gesicht.
     
    ********
     
    Chris umklammerte mit einer Hand die Reling, mit der anderen den Fahnenmast. Trotz des eisigen Regens, der ihm ins Gesicht peitschte, schwitzte er. Gleichzeitig zitterte er vor Anspannung. Er wollte schreien. So lange schreien, bis die Stimmbänder versagten. Mit den Füßen trampeln, bis das Deck einbrach. Den Kopf
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher