Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mantelkinder

Mantelkinder

Titel: Mantelkinder
Autoren: Anna Geller
Vom Netzwerk:
das Wasser und bewegte sich mit hoher Geschwindigkeit flussabwärts. Er war noch weit entfernt, aber die undeutlich erkennbaren Positionslichter ließen ahnen, was für ein Ungetüm sich da näherte. Wenn Albertini auch nur halbwegs ihren Kurs hielt … Niemals würde der Schiffsführer das kleine Beiboot rechtzeitig erkennen! Nicht bei Dunkelheit, nicht bei diesem Wetter!
    „Der muss stoppen!“, schrie Chris. Seine rechte Hand krallte sich in Susannes Mantelärmel, der vom Regenwasser schwer geworden war. „Der muss, verflucht noch mal, stoppen!“
    Aber Susanne schüttelte den Kopf. „Hat keinen Sinn. Die Dinger haben einen Bremsweg von ein, zwei Kilometern.“
    Trotzdem riss sie das Funkgerät ans Ohr und rief die „WSP 6“. Die Kollegen dort waren die Einzigen, die direkten Kontakt mit dem Schlepper aufnehmen konnten.
    Chris schloss verzweifelt die Augen. Sie waren so nah dran gewesen! Hatten sie versucht, Dennis vor dem Erdrosseln zu retten, damit er jetzt ertrinken musste?
    Karin und Hellwein sprangen gleichzeitig. Als ihre Körper laut klatschend aufs Wasser trafen, wirbelten Susanne und Chris herum. Auf dem Deck lagen nur noch zwei rote Daunenjacken.
    „Heinz!“
    „Karin!“
    Zwei Köpfe tauchten aus dem Wasser auf und wurden gleich darauf von der Dunkelheit verschluckt.
    Chris war mit einem Bein schon über der Reling. Aber Susanne packte ihn bei den Schultern und riss ihn hart zurück. Rücklings knallten beide auf die Planken.
    „Nein, zum Teufel! Nein!“, schrie sie ihn an. „Seid ihr denn jetzt alle verrückt geworden?“
    Der Schlepperverband setzte seine Fahrt unbeirrt fort. Und Chris wurde klar, dass dieser verdammte Fluss ihn nun doch eine ganze Menge anging.
     
    ********
     
    Das eisige Wasser lähmte sie. Kälte packte sie mit schneidendem Schmerz. Aber noch während sie unter Wasser war, begann sie zu schwimmen. Sie hielt sich leicht links, um nicht in den Sog vorbeifahrender Schiffe zu geraten.
    Als sie wieder an der Wasseroberfläche war, merkte sie, dass der Pullover wie Blei an Armen und Schultern hing. Die nasse Wolle dehnte sich aus, die schweren Ärmel behinderten sie bei jedem Zug. Der rechte Schuh wog plötzlich eine Tonne und machte eine vernünftige Koordination ihrer Bewegungen beinahe unmöglich. Sie hätte ihn ausziehen sollen.
    Hinter sich hörte sie Hellwein prustend auftauchen. Hoffentlich war ein guter Schwimmer, sonst hatte er in dem unberechenbaren Fluss keine Chance. Der Rhein bewegte sich nach eigenen Gesetzen. Die gewaltigen Unterströmungen sah man nicht, die Strudel bemerkte man erst, wenn man mittendrin war. Und weil er von Menschenhand über hunderte Kilometer in ein zu enges Bett gepresst worden war, floss er schnell. Viel zu schnell.
    Aber Karin konnte sich jetzt keine Gedanken um Hellwein machen. Sie musste den Jungen retten! Auf dem Deck der „Schneekönigin“ hatte sie sich durch einen einzigen Blick mit Hellwein verständigt. Sie wussten beide, was geschehen würde, wenn der Schlepperverband das leichte Boot passierte. Entweder würde die Nussschale gleich zermalmt oder aber die Wasserverdrängung wäre so groß, dass das Boot fast zwangsläufig kentern musste — mit einem achtjährigen Kind an Bord, das bewusstlos war. Ein Kind, das nichts dafür konnte, dass es unehelich war. Ein Kind, das das Unglück hatte, in Hildegard Albertinis Gedächtnis verankert zu sein. Nur deshalb war Karin gesprungen.
    Hellwein und sie hatten sich gleichzeitig die Jacken vom Leib gerissen und sich einfach über die Reling fallen lassen. Wahrscheinlich lagen ihre Krücken jetzt auf dem Grund des Rheins.
    Karin zwang sich, ruhig und regelmäßig zu atmen, obwohl die Kälte bis in die Knochen schnitt. Jeder Millimeter ihres Körpers war beißender Schmerz, brannte wie Feuer … Feuer … wie damals, als der Topf mit siedendem Öl sie traf, den ihr Vater nach ihr geworfen hatte. Das Öl hatte sich nicht nur über ihr Bein ergossen, sondern auch die Küche in Brand gesetzt. Flammen. Der Gestank nach verbranntem Fleisch. Die Nachbarn, die sie aus der Küche gezogen hatten … Feuer … Sie schluckte Wasser und versuchte, den Schmerz zu ignorieren.
    Die Strömung machte ihr zu schaffen, spielte mit ihr. Sie brauchte alle Kraft, um nicht die Richtung zu verlieren. Die Chancen, das Boot vor dem Schlepperverband zu erreichen, waren verschwindend gering. Aber sie konnte versuchen, den Jungen aus dem Wasser zu retten … Falls die kleine Plastikwanne nur kenterte und nicht gleich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher