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Malenka

Malenka

Titel: Malenka
Autoren: Irina Korschunow
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mit dem Lederknoten. Die Juden sind unser Unglück, lernten sie dort, und es nützte noch nichts, wenn Anna Jarosch schwor, David Mossel sei kein Unglück, ein freundlicher Mensch und immer reell. Margot ließ es nicht gelten, mit den Liedern im Kopf, die sie sangen, wenn sie im Kreis um die Hakenkreuzfahne herumstanden - Deutschland, heiliges Wort.
    Erst später, beim Überprüfen der Vergangenheit, in einer anderen Stadt, einem anderen Land, mit einem anderen Namen, kam ihr die Erinnerung an diesen Tag, das Gesicht ihrer Großmutter, die Stimme, die Worte, und sie begriff, daß, hätte die Synagoge nicht gebrannt, auch Pyritz nicht untergegangen wäre.

    Margot war dreizehn, als der Krieg begann, am 1. September 1939, Erntedank stand vor der Tür, das Leben ging weiter, Tag für Tag, alles normal vorerst, die Normalität im Absurden, kein Aufstand der Mütter, auch daß sie die Söhne gehen lassen mußten, war normal, in den Tod, wenn es sein mußte.
    Der Krieg ist der Vater aller Dinge, sagte Studienrat Harm in der Geschichtsstunde, ein noch jugendlich wirkender Feuerkopf, der mit knarzender Prothese durch die Korridore hinken mußte, weil er, gerade zweiundzwanzig Jahre lag das zurück, sein rechtes Bein irgendwo in Frankreich eingebüßt hatte. Margot wurde dazu ausersehen, bei der Schulfeier anläßlich des gewonnenen Polenfeldzugs ein von ihm verfaßtes Gedicht zu deklamieren, dessen Refrain lautete:

Deutschland, wir schwören uns dir zu,
es gilt nun nichts mehr, nur noch du,
und wenn wir denn fallen müssen,
wollen wir die Erde küssen,
Deutschland, dir den Sieg!

    Sie tat es mit Verve, noch glaubte sie daran.
    Anna Jarosch, der das Gedicht zu Ohren kam, sagte kopfschüttelnd: »Ist wie Wind in Bäume, nichts nütze, bloß Lärm.« Dennoch sah sie mit Stolz, daß man ausgerechnet ihre Enkeltochter vor die versammelte Schule treten ließ. Immer noch ein Wunder für sie, dieses Lyzeum, obwohl sie seinerzeit, als Margots Grundschullehrerin den Wechsel dorthin in Gang zu bringen suchte, nur zögernd ihre Zustimmung gegeben hatte.
    »Woher Geld für Schule, und kann ich ihr nicht helfen bei Rechnen und Schreiben, und ist nicht richtige Platz für sie«, so ihre Einwände. Daß es hochmütig sei, einen solchen Schritt überhaupt in Erwägung zu ziehen, ließ sie zwar nicht verlauten, sagte es aber um so eindringlicher zu sich selbst, abends vor dem Einschlafen, während eine andere Stimme in ihr von den Möglichkeiten raunte, die der Enkelin offenstünden und die sie, Anna, ihr verschließen wolle, und ob man es denn Hochmut nennen könne, wenn einer Speck zu den Kartoffeln begehre. Sie dachte an das blaue Kleid zum Schulanfang und auch an ihre Bemerkung vom Geldverdienen mit dem Kopf, zwar nur aufs Büro gemünzt damals oder auf so etwas wie das Kassenfräulein bei Ramelow, aber alles mißverständlich vielleicht für das Kind, ein Floh im Ohr.
    Sie horchte auf Margots Atemzüge, die nach Schlaf klangen.
    »Möchtest du gern gehen in bessere Schule, Malenka?« flüsterte sie, halb in der Hoffnung, ungehört zu bleiben. Aber Margot antwortete sofort.
    »Ja«, sagte sie. »Aufs Lyzeum. Und da gehe ich auch hin. Fräulein Meuchner besorgt mir einen Freiplatz, weil ich so gut lernen kann.«
    Das, in der Tat, klang hochmütig für Anna Jarosch.
    »Du noch nicht wissen«, murmelte sie, »ist heute nicht morgen, und wer springt auf Pferd von hinten, kann fallen in Dreck von vorn.«
    Doch Margot wußte es, sie wußte es und wollte es, und alles regelte sich wie von selbst. Nach den Osterferien 1936 betrat sie zum ersten Mal das graue, einstöckige Gebäude Ecke Bahnerstraße, dicht beim Markt, ein stolzer Gang, und keine Schwierigkeiten mit dem Geld, auch Hilfe brauchte sie genauso wenig wie vorher, und was nicht gleich gelingen wollte, gelang durch den Ehrgeiz, der, seinem Kokon entschlüpft, bohrte und stachelte und süchtig war nach dem Besten.
    Man merkte es ihr nicht an. Margot lernt fast ohne Mühe, stand im Zeugnis, und neidlos offenbar erkannten die Mitschülerinnen ihre Vorrangstellung an, hilfsbereit, wie sie sich zeigte, ohne aufzutrumpfen, und immer da, wenn jemand über einer Gleichung verzweifelte oder dem Passé simple. Nur selten vernahm sie hinterrücks hämische Bemerkungen, Anna Jarosch betreffend, die Wurstpolackin, oder die schreckliche Frage: Wer ist dein Vater? Ich habe keinen, sagte sie dann, schwieg, wich aus, lief weg und überspielte später wieder alles unten auf dem Schulhof. Fröhlich und
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