Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mal Aria

Mal Aria

Titel: Mal Aria
Autoren: Carmen Stephan
Vom Netzwerk:
krebsartiger Tiere auseinanderstob. Nichts hatte einen festen Platz. Ein Stein konnte blinzeln, ein Blatt rasen. Alles war in Bewegung, aber nichts rührte sich. Ein ganzer Wald wartete ab.
    Was suchte sie hier? Sie hatte hier nichts verloren. Immer stärker wurde der Wunsch, dem Pferd die Hacken in die Rippen zu stoßen, so schnell wie möglich zu verschwinden. Andererseits war sie ganz erfüllt von dem Ort. Hier konnte alles passieren. Etwas Schönes oder etwas Schreckliches. Eine Komödie oder eine Tragödie.
    Das Pferd dampfte, seine heiße Schulter zuckte. Aus der Ferne klang das allabendliche Panikgeschrei der Brüllaffen. Es tröpfelte schon eine Weile, der Regenbogen umspannte den Himmel nur noch als Skizze. Langsam wurde es dunkel. Wie spät mochte es sein? Sie zog das Pferd am Zügel um seine eigene Achse und ritt den Weg zurück. Langsam, im Schritt, um bloß nichts aufzuscheuchen. Links und rechts lugte sie in das Gestrüpp, hielt weiterhin nach dem Frosch Ausschau. Dabei war es ein Tier, das man weder sah noch hörte und über das es keine Geschichten gab, das ihr den Tod gebracht hatte.
    *
    Ein schwarzer Punkt schwirrt weißes Fell entlang. Fliegt in die Höhe, bis er ihren zarten Hals erreicht. Das Wesen landet, lautlos. Sein Hinterteil reckt es steil nach oben, als stolze Abgrenzung zu den anderen Stechmücken, die einen Buckel während ihres Raubzugs machen. Der gefährlichste Augenblick unseres Lebens. Die anderen ducken sich; wir erheben uns. Ich drang ein, und sie gab mir ihr Blut. Schluck für Schluck saugte ich den schweren Saft aus ihr heraus. Sechs Beine zittern. Der kleine Leib gerät ins Schlingern.
    Stellt euch das Gesicht einer Mücke vor. Ein Gesicht, das keinen Ausdruck verrät. Große Augen, dunkel, undurchdringliche Gitter – sie erzählen von einer fernen Welt, die symmetrisch in eure Welt eintritt. Gib mir, und ich gebe dir. Blut strömte, Geißeln strömten. Durch Arterien, ihre, meine, unsere. Wir waren verbunden. Ich wusste jetzt alles über sie. Kannte jeden ihrer Gedanken. Jedes Gefühl, mit dem ihr Herz das Blut schneller pumpen ließ.
    Ich trank, durch meinen Rüssel schlüpften die Geißeln in sie hinein, die sogleich ausschwirrten, ihren Körper übernahmen, für Nachkommen sorgten, die eine andere Mücke wieder aufnimmt, bis sie in ihr reif werden, sich fortpflanzen, um sie wiederum weiterzugeben. Der Kreis schließt sich.
    Ich trank und trank. Ganz langsam. Schluck für Schluck verstand ich. Ein Stich, der nicht das Ende war, sondern der Anfang. Der mich endlich erkennen ließ. Als würde sich im Wald der Nebel lichten und die Bäume Gestalt annehmen. Weil ihr Blut anders war? Weil ich dafür vorgesehen war? War es beides? Die Menge Blut, die ich trank, dreimal so schwer wie mein Leib, wirkte in mir, veränderte jede Faser in mir. Beim ersten tiefen Schluck stieg die Klarheit nach oben: Indem ich euch benutze, werde ich benutzt. Für den Sprung der Dämonen.
    Es heißt, manche von uns seien das Gehirn des Schwarms. Der Finger der Evolution berührt sie. Wie sonst könnte ich euch das, was sich ereignen sollte, erklären. Beim nächsten Schluck kam die Erkenntnis, was wir Anopheles, wir Nutzlosen, eigentlich taten. Wozu wir gezwungen wurden. Sie ließ es mich erkennen, ihr Blut war es. In dieser feinen, rötlichen Einstichstelle auf Carmens Haut fielen Tod und Leben auf einen fast unsichtbaren Punkt zusammen.
    Die Wahrheit stand da.
    Wir wollen leben und müssen dafür den Tod spenden.
    Wir nehmen uns eine Mahlzeit und vernichten euch womöglich dabei. Weil die Geißeln, diese Dämonen, meinen Hunger für ihre Zwecke missbrauchen.
    Ich wollte sie zurückhalten, hinunterschlucken. Aber sie schossen hinein, kaum war ich eingedrungen. Zwei Kräfte, die mich auseinanderrissen. Es gelang mir nicht, sie zurückzusaugen. Sie waren verschwunden. Weg.
    Der Kreis zog sich wie eine Schlinge um meinen Hals. Ich spürte Hass in kalten Tröpfchen aufsteigen. Was werden sie in ihr anrichten? Mit ihrem hellen, süßen Blut, das so wohlig warm in meinem Magen lag.
    Was hatte ich getan? Sind Unwissende auch schuldig? Ich war keine Unwissende mehr.
    Was bedeutete dieser Stich?
    Meine Augen fielen auf die dunklen Leiber der Bäume, die weder Trost noch Antwort boten.
    Was sollte aus ihr werden?
    Ich musste sehen, was geschehen würde. Sehen, wie der Kreis durchbrochen wird. Denn die Geißeln müssen sterben, nicht sie. Hört ihr. Die Geißeln.
    Der Gang des Pferdes wurde weicher. Wir hatten
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher